Die Wächter vor den Toren

Kurz vor ihrem 14. Geburtstag, im Mai 2010, lerne ich Diana kennen: Zart, große, braune Augen, Engelhaar, ganz in Schwarz gekleidet, gibt sie mir schüchtern lächelnd die Hand, blickt dabei an mir vorbei. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt erscheint sie, berührt mich, weckt in mir den Impuls, sie zu beschützen.

 

Diana ist magersüchtig. Vor eineinhalb Jahren hat sie angefangen, immer weniger zu essen. Zuerst hat sie die Süßigkeiten weggelassen, dann das Mittagessen, und wenig später auch das Frühstück. In der Schule hat sie sowieso gar nicht essen können, da sei der Stress viel so groß. Am Ende hat sie 31 Kilo gewogen, sich immer mehr zurückgezogen, nur noch mit den Katzen gekuschelt - drei hat sie sich im Laufe des letzten Jahres gekauft - und für die Schule gelernt. Sie hat aufgehört, mit den Freundinnen wegzugehen, nicht mehr Klavier gespielt und ist auch nicht mehr zum Aikido gegangen.

 

Da hat die besorgte Mutter Diana bei mir angemeldet.

 

In den ersten Sitzungen geht es um ihre Angst vor dem Essen, vor dem Dickwerden, aber auch um die Angst vor einer ungewissen Zukunft, vor dem „auf eigenen Beinen stehen“, erwachsen werden.

Es geht um ihren Druck, immer die Klassenbeste sein zu müssen, um ihre Angst nicht gesehen zu werden, nicht aus der Masse herauszuragen.

Es geht aber auch um den Neid der anderen.

„Als Magersüchtige, da schonen dich alle, keiner verlangt was von dir. Das finde ich schön."

Ich frage: Was fällt dir zu „dick-sein“ ein?

„Faul sein, unwissend sein, die Mutter.“

Es gibt eine energievolle Stimme in ihr, der sie die Gestalt eines roten Teufels gibt:

Nur wenn du dünn bist, bist du attraktiv und bekommst Aufmerksamkeit.

Hungern ist ein Zeichen für Stärke.

Normal sein bedeutet, in der Masse unterzugehen.

Wenn du dünn bist, bist du besonders.

 

Im Erstgespräch frage ich Diana: Was war in der Zeit los, als du angefangen hast weniger zu essen?

 

„Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Das ist wie weggewischt.“

 

Sommer 2008 - die auslösenden Ereignisse

Jetzt tragen wir Stein um Stein gemeinsam zusammen:

Im Sommer 2008 wechselt sie von der Grundschule, in der sie mühelos Klassenbeste war, aufs Gymnasium in eine Schnellläuferklasse, hat teilweise bis 15 Uhr 30 Unterricht, sieben, acht Stunden. Der Stundenplan ist voll geladen, dazu die Hausaufgaben, die Tests, die Referate.

Das ist ein unglaublicher Druck für sie und sie denkt oft:

„Ich schaffe das nicht. Ich kann nicht mehr.“

 

Ungefähr zu der Zeit trennt sie sich von ihrer besten Freundin Almira. Sie waren auf der Grundschule jeden Tag zusammen, jetzt entwickeln sie sich voneinander weg. Während Diana nur noch für die Schule lernt, schminkt sich Almira, interessiert sich für Jungen und lässt sie  immer öfter stehen. Die anderen Mädchen warnen sie:

„Pass auf, dass du nicht so eine Tussi wie Almira wirst.“

Da habe sie sich von ihr zurückgezogen.

 

Noch schmerzlicher ist jedoch für sie, dass der zwei Jahre ältere Bruder, zu dem sie ein inniges, zärtliches Verhältnis hat, den sie bewundert und dem sie nacheifert, plötzlich nichts mehr mit ihr zu tun haben will, nur noch eklig und gemein zu ihr ist.

„Wenn ich daran denke, werde ich ganz traurig und muss weinen. Ich rede dann mit meinen Katzen und die trösten mich.“

 

Und dann lernt sie – auch in diesem Sommer 2008 - einen Jungen aus dem Sportclub näher kennen gelernt. Sechs Jahre älter war der, Manolo. Sie erinnert sich, dass sie zusammen im Schwimmbad waren, und sie die ganze Zeit nichts gegessen hat, um ihm zu zeigen, wie stark sie ist.

„Manolo wollte mit mir ins Kino gehen und Händchen halten, aber ich habe irgendwie das Gefühl gehabt, es ist nicht richtig. Meine Mutter hat so komisch geguckt. So als ob es verboten sei. Ich wollte dann mit meiner Mutter auch nicht über ihn reden. Aber ich wollte auch keine Geheimnisse vor meiner Mutter haben. Ich habe mir damals so sehr einen Freund gewünscht, davon geträumt, und dann habe ich mich nur noch unwohl gefühlt. Wenig später habe ich mir dann die erste Katze gekauft.“

 

Der Traum

Nach der ersten Therapiepause im Sommer 2010 bringt sie mir einen Traum mit:

„Ich und Anna und alle meine Freunde, wir waren alle Fische. Irgendein Fisch hatte viele kleine Kinder. Wir mussten wegschwimmen. Es gab Wächter an den Toren. Hinter uns war was Böses. Wir mussten durch die Tore schwimmen. Um der Bedrohung zu entkommen, musste man durch die Tore schwimmen, aber es haben nicht alle geschafft. Die Wächter standen an den Toren, als wenn sie zu den Bösen dazugehören. Sie haben gedroht, wenn wir nicht durch die Tore gehen, bringen sie uns um. Aber es sind nicht alle rechtzeitig nachgekommen. Als wir ganz durch waren, haben alle geweint, wir haben alle Freunde verloren. Alle Kinder blieben zurück. Ich bin aufgewacht und habe geweint.“

 

Die Eltern

„Zu ihrem 14. Geburtstag hat sie nur vier Mädels eingeladen“, beklagt sich die Mutter bei mir, „und denen wollte sie nur klein geschnittenes Gemüse vorsetzen. Ich habe dann aber doch einen Kuchen gebacken und Bouletten gemacht.“

 

„Sie hat keine Lebensfreude, sitzt am Rechner und chattet, eingehüllt in eine Decke wie eine alte Oma, friert auch bei 30 °. Mit mir macht sie überhaupt nichts mehr zusammen“, schimpft der Vater. „Sie hat sich von allem zurückgezogen. Es gibt da so eine Symbiose im Leiden mit meiner Frau. Sie schlafen zusammen in einem Bett mit den Katzen.“

 

Die Eltern haben sich 2009 räumlich getrennt. Die Ehe sei aber schon seit 10 Jahren(der Vater), „10? ich dachte seit 8“(die Mutter)  auseinander.

Nach der Geburt von Diana habe seine Frau 25 Kilo zugenommen, so der Vater, sei gereizt und unnahbar geworden. Er habe das als eine Provokation empfunden und habe seitdem wechselnde Geliebte, schlanke Frauen, die ihm aber nichts bedeuten.

 

Unlösbare Konflikte

Was war also los in diesem Sommer 2008, welche Konflikte waren für sie so unlösbar, dass sie zum lebensgefährdeten Nichtessen greifen musste?

Die Ehe der Eltern geht endgültig in die Brüche und der Platz des Mannes im Ehebett wird leer: Mutter und Tochter klammern sich wie zwei Schiffbrüchige aneinander.

Zur gleichen Zeit wechselt sie aufs Gymnasium.

Sie muss die Beste bleiben und das bedeutet Stress, Rückzug von allen sozialen Kontakten. Lernen, lernen, lernen.

Sie spürt ihren starken Willen, spürt ihre Disziplin und unterwirft sich den eigenen rigiden Anforderungen, die sie allerdings als etwas Äußerliches erlebt. Nicht ganz widerspruchsfrei. Immer wieder wird sie von Hungergefühlen überwältigt, kaut dann Brot und spukt es aus, was sehr schambesetzt ist. Sie kann mit mir erst spät darüber sprechen.

Menschen, die essen, machen sie wütend, konfrontieren sie mit ihrer eigenen Bedürftigkeit. Fast alle Sozialkontakte sind mit Essen verbunden. Eine Qual für sie.

Der Entwicklungsschub der Freundin konfrontiert sie mit einer weiteren Angst: Der Angst, eine Frau zu werden, erwachsen zu werden(der Traum: Wir mussten durch die Tore schwimmen, aber es haben nicht alle geschafft. Alle Kinder blieben zurück. Als ich aufgewacht bin, habe ich geweint). 

Die Freundin bekommt ihre Menarche, ist jetzt mehr an Jungen als an der Freundschaft mit Diana interessiert. Diana fühlt sich fallengelassen und reagiert ihrerseits mit Rückzug. Eine Bewältigungsform, die uns im weiteren Verlauf der Therapie immer wieder beschäftigen wird.

Gleichzeitig merkt sie, dass sie selber noch nicht bereit ist für eine intimere Freundschaft. Das Frausein, das Erwachsenwerden macht ihr Angst. 

Sie will nicht so werden wie die Mutter. Die vom Vater verlassen wurde. Für schlanke Geliebte. Die vom Vater als faul beschimpft wurde.

Auch sie verachtet die Mutter, fühlt sich ihr aber auch verbunden, braucht sie, hasst sich dafür.

Die Mutter ist da, kümmert sich, ist zuverlässig.

 

Diana war ein Vaterkind.

Sie hat viele, zum Teil gefährliche Hobbys mit ihm geteilt.

Der Vater hat sie dazu gebracht, ihre Angst zu überwinden, über sich hinauszuwachsen.

Von einem Tag zum anderen, für den Vater völlig unverständlich, bricht sie den Kontakt zu ihm ab, will nichts mehr mit ihm zu tun haben, besucht ihn nicht in seiner neuen Wohnung.

An seinem Papatag will er mit ihr zur Lady’s Night ins Kino gehen, „wo all die verrückten jungen Mädels rumhüpfen, Salzstangen essen und Sekt trinken“(so der Vater).

Soll seine Tochter auch so eine sein? Oder eher eine Brave vom Dorf wie die Mutter?

Gibt es einen begehrlichen Blick auf diese jungen Dinger? Spürt den Diana? Ist ihr dieser Blick unangenehm?

Auffallend ist, dass sie das Fremdgehen des Vaters, seine beruflichen Eskapaden ausblendet, nicht wahrhaben will.

In der Anfangszeit will sie noch nicht einmal wissen, was er arbeitet. Seine vielen häuslichen Abwesenheiten erklärt sie mit:

Er schläft im Büro.

Es gibt das Bild des kleinen Mädchens von einem Vater, der alles weiß und kann, und das Bild, das sie sich als Jugendliche mit wachem Verstand von dem realen Vater macht, einem Spieler, wenig zuverlässig. Er hat mal Geld, mal keins, schläft selten zu Hause. Für den Familienunterhalt sorgt die verachtete Mutter.

Der Vater hat nicht nur die Mutter, er hat auch sie verlassen. Betrogen. Es gibt den idealisierten Vater nicht mehr. Auch ihn hat sie verloren.

So viele Verluste, die sie in relativ kurzer Zeit verkraften muss.

Hinter der Essstörung ist also auch eine depressive Störung verborgen, die sie mit der Essstörung abzuwehren versucht.

 

Vater, Mutter, die Lehrer, die Klassenkameraden, die Therapeutin. Alle haben die unterschiedlichsten Erwartungen an sie. Sie will die Erwartungen erfüllen und kann es nicht.

Einmal, als ich sie wieder zu irgendetwas ermuntern will, bricht es aus ihr heraus:

„Alle wollen, dass ich dies und das mache. Ich weiß gar nicht, was ich selber will. Was mir Spaß macht.“

Ein guter Ansatz!

 

Der Rückzug

Nach einer sehr euphorischen Anfangszeit wird es nach der Therapiepause durch die Sommerferien 2011 quälend.

Ihr fällt nichts mehr ein.

Ich lasse sie einen Zettel schreiben - nur für sich.

5, 6 Themen stehen auf dem Zettel. Bei einigen überlegt sie, ob mich das interessiert, ob ich das banal finden könnte, bei anderen: die mag sie nicht erzählen, die sind zu schambesetzt.

Daraus entwickelt sich das Thema:

Sich dick fühlen.

Wann kommt das?

Sich leer fühlen, nur ans Essen denken, immer essen wollen, einsam sein, keine Freundin, kein Freund, kein Bedürfnis nach Kontakt.

Plötzlich weint sie.

„Gestern habe ich meinen Vater auf dem Fahrrad gesehen und habe mich gefreut“.

Ihr fallen all die schönen Erinnerungen ein.

Aufwachen in der Ferienwohnung in Spanien, Frühstück in der Sonne – sie alle vier zusammen: Das wird nie wieder so sein!

Sie hat nicht nur ihre Kindheit verloren, sondern auch ihre "heile" Familie. Sie beweint den Verlust der Unbeschwertheit.

 

Nach einer weiteren Therapiepause(Herbstferien) zieht sie sich von mir zurück. Sie überlegt, in eine Klinik zu gehen.

Im Internet sucht sie sich eine Klinik, die die besten Bewertungen bekommen hat, setzt sich für eine Bezahlung durch die Krankenkasse ein und wird zwei Monate stationär behandelt.

Eine wichtige Erfahrung.

Die Klinik gibt ihr Schutz und Geborgenheit, Struktur.

Die Abläufe, das geregelte Essen. Alles ist vorgegeben.

Die Zeit für die Arbeit, für das Essen, für Aktivitäten, für soziale Kontakte.

Die Klinik hat die unterschiedlichen Anforderungen geregelt, hat die Erlaubnis zur Freizeit, zu Kontakten gegeben.

 

Nach der Klinik

Erst ganz allmählich gelingt es ihr, diese Regelung selber zu gestalten, nicht nur auf ihr strenges Über-Ich, ihr hohes Ich-Ideal zu hören, dem Leben, dem Vergnügen einen Raum zu öffnen, ohne die Angst darin zu versacken.

Sie kann sich wieder auf den therapeutischen Prozess mit mir einlassen. Viel später erst berichtet sie mir von den verheerenden depressiven Einbrüchen, die sie in den Therapiepausen - es sind gleichzeitig Schulferien - hatte. Wie verlassen, im Stich gelassen sie sich fühlte, aber auch, wie wenig sie mir ihre Bedürftigkeit zeigen durfte. 

 

In der Klasse entstehen in dieser Zeit wieder erste zaghafte Freundschaften. Corinne.

Als die Freundin auf Kursfahrt geht, spürt sie den Schmerz: Jemand, den ich mag, ist nicht da.

Und sie kann über ihre Art reden, mit dem Schmerz umzugehen: das Gefühl der Leere führt zu einem Bedürfnis sich aufzufüllen, immerzu zu essen, zu der Angst, dick zu werden. Alle sehen ihre Bedürftigkeit. Nichtessen ist ihre Lösung, die wir uns jetzt angucken können. Gibt es auch andere?

 

Ein Traum: Jemand sitzt in einem Kreis und ein anderer steht außerhalb und beschimpft ihn.

Dann erkennt sie, das bin ja ich. Ich sitze im Kreis und ich beschimpfe mich.

Der Wunsch: liebevoll mit mir umgehen. Für mich liebenswert werden.

 

Ich erzähle ihr eine kleine Geschichte

Auf einer Versteigerung sollte eine Geige veräußert werden. Niemand wollte sie haben, denn sie war in erbärmlichem Zustand. Der Anbieter probierte sie selber aus, um zu zeigen, dass sie noch funktionierte. Es klang fürchterlich. Niemand wollte sie kaufen. Da meldete sich ein alter Mann aus der letzten Reihe und fragte, ob er sie auch ausprobieren könne. Zuerst entstaubte er die kleine Geige gründlich und liebevoll mit seinem Taschentuch, dann stimmte er die Seiten und begann zu spielen. Er spielte eine wundersame Melodie, die den Menschen das Herz rührte. Viele wollten jetzt die Geige kaufen.

 

Wenn wir uns wertschätzen, unseren Körper, unsere Wünsche und Bedürfnisse, dann werden uns auch andere wertschätzen.

Wenn wir uns selber wertschätzen, können wir auch die anderen wertschätzen.

Ein Gefühl der Verbundenheit entsteht.

 

Die Schule

In der ersten Zeit hatte sie eine Randstundenbefreiung im Gymnasium. Sie war so schwach, dass sie die acht Stunden nicht durchhielt. Sie ertrug die anderen Schüler nicht, den Lärm nicht, die Unordnung. Sie lerne zu Hause viel effizienter, verkündigt sie mir. Irgendwann hat die Direktorin dem einen Riegel vorgeschoben.

Nach dem mittleren Schulabschluss beginnt das Kurssystem.

Ein Neuanfang, den sie genießt.

Vor allem der Leistungskurs Musik begeistert sie.

Sie beginnt Klavier zu spielen.

„Imagine“ spielt sie auf dem Musikabend der Schule.

Sie findet Freunde.

Jenseits der Noten entwickelt sie Interesse an einzelnen Fächern.

Trotzdem fangen die meisten Sitzungen mit Klagen an:

Über Ungerechtigkeiten, über langweilige Lehrer, über Mitschüler, denen gegenüber sie sich nicht abgrenzen kann.

Ich bin für den Perspektivwechsel verantwortlich, für eine andere Sicht auf die Dinge.

Ein Stundenprotokoll aus dieser Zeit mag das veranschaulichen:

"Ich bin ja heute so kaputt, ich habe ganz wenig geschlafen, Bio geschrieben, mir totalen Stress gemacht.

Morgen ist ein fürchterlich langer Tag, mich graust schon jetzt davor.

7 Stunden Unterricht und dann auch noch 4 Stunden Musikprobe für den Musikabend, 14 Stunden in der Schule.

Ich bin dann da die ganze Zeit und mir fehlt die Zeit, um für die Klausuren zu üben, die ich nächste Woche schreibe.

Ich muss die Leistung bringen, die von mir erwartet wird, die die Lehrer von mir erwarten.

Neulich hat jemand zu mir schon nach 5 Stunden gesagt, Du siehst ja ganz fertig aus.

Wie seh’ ich dann nach 14 Stunden aus!

Verschwitzt, fettige Haare, ich stinke, ich steigere mich da total rein und will dann nur noch weg, kann an nichts anderes mehr denken".

Sie jammert und beklagt sich.

So fängt fast jede Stunde an. Müll abladen.

Manchmal dauert es 30 Minuten, manchmal schaffe ich es, früher einzugreifen.

Ich weiß, dass sie gerne Musik macht, die Musikabende liebt  und so frage ich sie, was sie denn proben.

„Don't worry, be happy“ als A – Cappella - Stück, das sie mag und bei dem Gedanken daran, wandelt sich die Stimmung ein bisschen.

Sie erzählt von den Proben und wie viel Spaß das Singen macht. Dann gehe ich mit ihr durch den morgigen Tag: die ersten 2 Stunden Klausur, dann Physik, dann Erdkunde, dann eine Pause 2 Stunden Mathe und Deutsch.

Die Klausur, da wär sie konzentriert, Physik mag sie, Erdkunde auch, die Pause, es gebe gar keinen Raum zur Entspannung, und sie fängt wieder an zu jammern, alles sei so müllig und so laut, nirgends finde man Ruhe.

Dann fallen ihr doch ein paar Räume ein, wo sie gerne ist und wir überlegen, wobei sie sich entspannen könnte. Musik hören. Jetzt fallen ihr plötzlich viele entspannte Stunden ein:

Gestern im Oberstufenraum habe sie zusammen mit zwei Freunden am Computer Quatsch gemacht, z.B. Langeweile bei google eingegeben oder Musikvideos auf You Tube gesehen, das sei richtig schön gewesen.

Jetzt fällt ihr zu der Klausur morgen ein, wie gut sie eigentlich vorbereitet ist, dass sie, weil sie jeden Tag den Stoff wiederholt, vor der Klausur gar nicht soviel lernen muss.

Sie wird immer zufriedener.

Dann fällt ihr eine Situation vor zwei Monaten ein, wo sie am Musikraum vorbeigekommen ist und es waren gerade Präsentationen und sie sei freiwillig geblieben, weil es so schön war.

Als wir genug schöne Situationen gesammelt haben, gehe ich mit ihr in eine Metaposition.

Was sie im Vorfeld macht, um sich vor dem Tag zu grausen und wie sie jetzt über den Tag denkt.

Ihr fällt auf, dass, wenn  sie sich vorstellt, freiwillig etwas zu machen, es ihr leichter fällt, an den Tag zu denken.

Die Vorstellung, nicht ausgeliefert zu sein, sich entscheiden zu können, sei wichtig.

Dann gehe ich mit ihr einen Schritt weiter.

Es geht um äußere Umstände und die innere Einstellung dazu. Wie man die äußeren Umstände interpretiert und ich erzähle ihr von Czikszentmihaly und dem Flow - Zustand.

Ihr fällt dazu ein, dass sie heute in der Bioklausur, die ganze Zeit das A - Capella - Stück innerlich gesungen habe und dadurch richtig heiter wurde.

Jetzt überlegen wir, wie sie, wenn sie merkt, dass sie sich in einen düsterer Zustand hinein imaginiert, diesen Vorgang stoppen kann, und wie sie in den heiteren Zustand, in dem sie jetzt ist, überwechseln kann. Wir finden das Bild von einem düsteren Ufer und einem Ufer im Sonnenschein und einer Brücke. Die wichtige Frage ist, wie man die düsteren Gedanken stoppt und wie man von der einen Seite zur anderen Seite kommt.  

 

Das Abitur – der Wendepunkt

Die Bekanntgabe der Abi Noten

„Ich hatte richtig Panik vorher, Albträume, habe schlecht geschlafen, versucht die Zeichen zu deuten. Wenn ich einem Lehrer begegnet bin, wie hat der geguckt, was hat das zu bedeuten. Ich war sehr aufgeregt. Als die Zettel verteilt wurden, bin ich rausgerannt, hab mich in eine Ecke verzogen, hatte nur kurz draufgeguckt, alles zweistellig. Dann hab ich gesehen 15 Punkte,  15 Punkte, 15 Punkte, 14 Punkte, 14 Punkte. Ich hab vor Erleichterung angefangen zu weinen. Ich war erleichtert und überrascht, ich konnte es nicht glauben. Jetzt hab ich 1.0 als Gesamtnote. 1.0.

Ich versteh nicht, wieso ich mich so total kirre mache. Ich hatte ständig Alpträume. Ich habe mir das Schlimmste ausgemalt. Ich habe versucht, mich damit zu beruhigen: Für BWL brauchst du nur einen Schnitt von 2,7.

Ich fand es so ungerecht, ich hab mich so angestrengt und dann ist nichts dabei rausgekommen.

Gestern war dann die Abi - Verleihung. Bis zur letzten Minute hatte ich Angst, jemand kommt und sagt, es war alles ein Fehler, Angst, dass auf dem Zeugnis eine andere Note steht. Erst als ich das Zeugnis in der Hand hatte, da hab ich es wirklich geglaubt.

Jetzt bin ich erleichtert und glücklich. Ich freu mich auf das, was kommt.

Ich fang meinen Führerschein an, arbeite Probe bei einer Boutique und freu mich auf das Studium.

Ich treff’ mich viel mit Freunden, oft mit Paul.

Letzte Woche habe ich lange mit meinem Vater gesprochen.

Er hat mir erzählt, dass er auch in der 9./10. Klasse sehr unglücklich war. Erst als er ins Kurssystem kam, lief es besser. Ich hatte ja immer das Gefühl, ich bin unbeliebt.

Alle hassen mich.

So viele sind auf mich zugekommen, aber ich habe jede Hilfe abgelehnt.

Sie haben mich ja immer zur Klassensprecherin gewählt.

Aber ich hatte Angst, dass die anderen mich hassen, wenn sie mehr von mir kennenlernen. Ich hab auch gedacht, ich hab für Freunde keine Zeit. Ich muss alle Energie aufs Lernen legen. Erst in der Oberstufe ist mir klar geworden, dass man mit Freunden besser lernt. Ich hab immer gedacht, die anderen sind neidisch, sie gönnen mir meine guten Noten nicht.“

 

Nach dem Abi studiert sie, geht viel weg, findet einen Freund, einen ziemlichen Draufgänger. Sie hat Spaß an der Uni, engagiert sich im Studentenrat und zieht in eine WG.

Das Essen normalisiert sich, verliert an Bedeutung.

 

 

 

 

Psychotherapeutische Praxis

Regina Konrad

 

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