Hungern im Schlaraffenland

53% der 15jährigen Mädchen in Deutschland fühlen sich zu dick.

So lautet das Ergebnis einer Studie der Universität Bielefeld unter Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahr 2012. Nur 10 % wurden in dieser Studie als übergewichtig eingeschätzt. Die Studienleiterin Petra Kolip macht für dieses negative Körperbild auch die Medien verantwortlich, die u.a. mit retuschierten Bildern den Mädchen ein unerreichbares Schlankheitsideal vorführen(siehe 32 Kilo). Die Folge dieser immer größer werdenden Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit ist eine Zunahme von Essstörungen. 

Nach einer Studie der Universität Jena leidet jede dritte Schülerin in Deutschland an Frühformen von Essstörungen. Essstörungen nehmen seit 20 Jahren beständig zu. Nach Schätzungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung litten in Deutschland im Jahr 2000 mehr als 100 000 Frauen zwischen 15 und 35 Jahren an der Magersucht, rund 600 000 Frauen sind von der Bulimie betroffen.

Begonnen hat das klapperdürre Schönheitsideal in Europa mit Twiggy in den 1960 er Jahren. Schauen Sie sich einmal alte Modezeitschriften an. Sie werden feststellen, dass die Models damals noch Körperformen hatten, ihr Durchschnittsgewicht wesentlich höher lag. Es ist seitdem ständig gesunken. Heute spricht man von einem androgynen Schönheitsideal, das heißt eine Frau soll möglichst wenig weiblich aussehen. Dazu werden oft die Models in den Zeitschriften noch einmal retuschiert. Ivonne Thein hat das mit ihrer Ausstellung im c/o Berlin(32 kilo) eindrücklich gezeigt. Als ich aus der Ausstellung kam, fiel mir an der nächsten Bushaltestelle eine Werbung einer Modekette auf, die genau so ein klapperdürres Model zeigte.

Woher kommt das?

Wissenschaftler, u.a.Volker Pudel von der ernährungspsychologischen Forschungsstelle in Göttingen, erklären das mit unserem anhaltenden Wohlstand. Früher gab es ausgedehnte Not- und Hungerszeiten, allein in Deutschland im letzten Jahrhundert der erste Weltkrieg, die Wirtschaftsdepression, der zweite Weltkrieg, Zeiten, in denen der äußere Mangel die Nahrungszufuhr regulierte, das, was wir essen konnten, bestimmte. Außerdem wurde noch hart und lange körperlich gearbeitet. Die Armen waren dünn, nur die Reichen waren wohlgenährt. Also herrschte ein anderes Weiblichkeitsideal vor. Schauen Sie sich die Rubens Bilder an(einige können Sie hier auf der Seite sehen). Das galt im 15., 16 Jh. als schön.

In Zeiten von Überfluss, von überfüllten Supermarktregalen erfordert es sehr viel Disziplin den Verlockungen zu widerstehen(für einige mehr, für andere weniger).

Askese ist angesagt, wer etwas auf sich hält, ist schlank.

Viele Jugendliche, die ein wenig fülliger sind, erzählen mir unter Tränen, wie sie in ihren Klassen, vor allem von den Jungen gemobbt werden. Fette Sau, Fettarsch sind anscheinend gängige Schimpfworte(die allerdings eher etwas über die Probleme pubertärer Jungen aussagen, die sich übrigens meistens zu mager finden gemessen an einem athletischen Körperideal, aber das ist ein anderes Thema). Andere Mädchen, die sich 10, 20 Kilo in ihren entscheidenden Entwicklungsjahren heruntergehungert haben, werden gelobt und mit Komplimenten bedacht.

Es gibt also auf der einen Seiten ein Schlankheitsideal und auf der anderen Seite junge Mädchen, die dem entsprechen möchten.

Das sind die zwei Seiten.

Die jungen Mädchen, die ich mit der Diagnose Magersucht(Anorexia nervosa) in meiner Praxis sehe, sind meist extrem perfektionistisch. Dieser Perfektionismus gedeiht gut auf einem Nährboden aus Zukunftsangst und geringem Selbstwertgefühl. "Die Anforderungen sind so hoch. Ich kann die nur mit extremer Disziplin schaffen", sagen sie zu mir.

Allerdings gibt es gerade dann, wenn eine Symptomatik sehr gehäuft auftritt, auch ein großes Spektrum an persönlichen Gründen, das Essen einzustellen. Zukunftsangst ist einer, depressive Verstimmungen ein anderer, Selbsthass ein weiterer.

Vor allem wenn der Selbsthass sich auf den als unförmig und hässlich erlebten Körper bezieht, der für alles, was schief läuft, verantwortlich gemacht wird.

Viele Jugendliche, die hungern, kommen aus Familien mit starken Bindungen und einem hohen Harmoniebedürfnis. Diesen Jugendlichen fällt es schwer, nein zu sagen, und sie fühlen sich auch extrem abhängig von ihren Eltern.

Für diese Jugendlichen ist die Magersucht eine Möglichkeit sich zu verweigern, trotzig zu sein, aber auch eine Möglichkeit, sich unabhängig und stark zu fühlen.

Spieglein, Spieglein ...

 

Was sehe ich, wenn ich in den Spiegel sehe?

Was fühle ich?

Was denke ich?

Ich fühle mich dick, gemessen woran?

An den retuschierten Zeitungsbildern? 

 

 

Vor 40 Jahren wogen die Models 8% weniger als die Durchschnittsfrau.

 

Heute wiegen sie 23% weniger als die Durchschnittsfrau.

 

Sie bewegen sich also an der Magersuchtsgrenze.

Sie verkörpern ein präpubertäres, androgynes Figurenideal.


 

 

Psychotherapeutische Praxis 

Regina Konrad

 


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