Sabrina

Angst und Angstbewältigung

 

„Gleich darauf führte ich [...] einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.[ ... ] Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine, das mir am Sonntagmorgen in Combray [ ... ], sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Leonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte.“

(Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit)

 

 

Donnerstag Punkt vier steht Sabrina vor der Tür. Schlank, fast hager. Die schwarzen langen Haare in der Mitte gescheitelt, ein schmales Gesicht mit Sommersprossen, grüne, vorwitzige Augen, Brombeerlippenstift, Affenschaukeln, quer gestreifte Strumpfhosen mit Minirock: Eine Mischung aus Pippi Langstrumpf, Mona Lisa und Espritwerbung. 18 Jahre ist sie jetzt alt. Vor gut einem Jahr – 2 Tage vor ihrem 17. Geburtstag - hatte sie sich das erste Mal bei mir gemeldet. Der Grund: Panikattacken, Atemnot und die Angst zu sterben. Nach einer sehr turbulenten Anfangszeit ist es die letzten Monate ruhiger, entspannter geworden. Aber heute wirkt sie geladen. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck stürmt sie an mir vorbei ins Therapiezimmer, wirft sich auf den Stuhl, nimmt Anlauf, kaum dass ich hinterherkomme, mich setze, sie erwartungsvoll angucke. Was ist passiert? Da sackt sie in sich zusammen, besinnt sich, richtet sich wieder auf, guckt mich an und schlägt die Augen wieder nieder. Jetzt bleiben sie auf einen Punkt auf dem Teppich fixiert, minutenlang. Schweigen. Sie kämpft mit sich –  wie jemand, der am Rand eines Schwimmbeckens steht und sich überlegt, ob er springen soll oder es lieber auf morgen verschieben. Dann gibt sie sich einen Ruck.

„Heute muss ich über etwas reden, das mir sehr peinlich ist“, stößt sie hervor, „ich kann immer noch nicht abends allein zu Hause bleiben. Wenn meine Mutter und ihr Freund verreisen, so wie morgen, muss ich jemanden bitten, bei mir zu übernachten, jeden Abend, wie ein kleines Kind.“

Dunkelangst. Sie ist deswegen verstört und beschämt und das ist verständlich. Sie möchte von sich nach außen einen anderen Eindruck vermitteln, sie möchte tough wirken, wie eine, die das Leben mit Elan und Vitalität bewältigt. Das verängstigte Kind, das jetzt zum Vorschein kommt, ist eine Facette, die sie auch mir bisher wenig zeigen mochte. Es ist ein Anteil, für den sie sich schämt, den sie nicht versteht, und von dem sie annimmt oder befürchtet, dass auch ich ihn nicht verstehen könnte, vielleicht sogar sie dafür verachten? Jetzt schaut sie auf, schaut mich forschend an. Wie schaue ich sie an? Reagiere ich so, wie sie es befürchtet hat? Kann sie in meinem Gesicht Verachtung lesen, Triumph, Enttäuschung? Oder steht mir die Erleichterung ins Gesicht geschrieben? Denn das bin ich: erleichtert - ich hatte mir – angesichts ihrer Verstörung – in diesem minutenlangen Schweigen Schlimmes ausgemalt. Dunkelangst. Wir sind tagaktive Wesen. Wenn es dunkel wird, sind wir stärker unseren Phantasien ausgeliefert, angewiesen auf gute Trost- und Beruhigungserfahrungen. Gab es die in unserer Geschichte nicht, können wir schlecht einschlafen, durchschlafen, uns vertrauensvoll dem Schlaf und dem Traum hingeben.

Das gucken wir uns jetzt in aller Ruhe an, signalisiere ich ihr, wir beide, ein eingeübtes Forschungsteam, was die Abgründe der Seele anbelangt. Da haben wir doch schon ganz anderes gemeinsam bewältigt.

Sabrina ist eine phantasievolle, kreative junge Frau. Es fällt ihr leicht, sich ängstigende Situationen plastisch vorzustellen und darüber in Panik zu geraten. Genauso leicht fällt es ihr aber auch, ihre Phantasie und Kreativität zu nutzen, um andere Lösungen für konflikthafte  Situationen zu finden. Hilfreich ist es, sie aus den luftigen Höhen ihrer Vorstellungswelt auf den Teppich der Realitäten zu holen.

„Schildern sie mir doch einmal ganz genau die ängstigende Situation“, schlage ich ihr deshalb vor. Es ist eine Einladung, so konkret wie möglich zu beschreiben, was genau ihr angst macht, es in meinem Beisein zu beleben und vermutlich anders zu erleben.

„Ich komme in die Wohnung. Meine Mutter und ihr Freund sind nicht da, und da ist dieser große, dunkle, lange Flur. Ich gerate in Panik, renne hektisch in jeden Raum und mache überall das Licht an, gucke in jede Ecke, ob da jemand versteckt ist. Dann rufe ich meine Freundin Lisa an und bitte sie, bei mir zu bleiben.“

Sabrina braucht in ängstigenden, in erregenden Situationen also jemand, der sie beruhigt. Sie kann sich nicht selber beruhigen, trösten. Als Säugling und Kleinkind beruhigt und tröstet uns die Mutter oder der Vater, wenn wir aufgeregt sind, irritiert, wenn wir uns bedroht fühlen. Sie vermitteln uns mit ihrem Verhalten Sicherheit und Geborgenheit. Wenn wir wiederholt Trost und Beruhigung erlebt haben, verinnerlichen wir diese Erfahrung, sie wird zu einer eigenen Fähigkeit. Wir können uns später selber trösten und beruhigen, zum Beispiel indem wir mit uns sprechen, vielleicht die Worte wiederholen, die die Mutter oder der Vater in diesen Situationen gesagt haben. Wenn wir nicht ausreichend und zuverlässig oft beruhigt wurden, bleiben wir auf andere angewiesen mit all den Scham- und Insuffizienzgefühlen, die Sabrina gerade geschildert hat. Hilflos, abhängig, lebensuntüchtig. Ein guter Grund zur Panik: Vor vier Monaten hat Sabrina ihr Abitur gemacht, möchte ausziehen, studieren, auf eigenen Füßen stehen. Und kann noch nicht einmal einen Abend alleine bleiben! Welche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Aber kann solch eine frühe Fehlentwicklung überhaupt durch eine Therapie verändert werden? Sabrina hat es aufgrund ihrer Stärken geschafft. Dieselbe Phantasie, die in ihr riesenhafte Schreckensbildern hat entstehen lassen, hat ihr geholfen, hilfreiche Gegenbilder zu entwerfen, die sie auf dem Weg aus der Angst geleitet haben. Diesen Veränderungsprozess werde ich beschreiben – beginnend mit dieser Sitzung an einem warmen Oktobertag.

Als erstes schlage ich Sabrina eine Imaginationsübung vor. Imaginationsübungen sind ihr vertraut, wir haben sie oft miteinander gemacht. Im geschützten therapeutischen Raum bedrohliche, ängstigende Situationen neu zu gestalten, hat sie bisher als hilfreich erlebt, findet sie spannend. Da fällt ihr viel ein. „Stellen Sie sich einmal vor“, rege ich sie deshalb an „wir betreten gemeinsam die Wohnung und bleiben an der Eingangstür stehen. Schildern Sie mir jetzt einmal ganz genau, was Sie erleben“. „Dieser Flur – er ist dunkel, lang und hoch, er ist riesengroß“. Während sie mir die Szene beschreibt, entsteht in mir das Bild eines kleinen Kindes, das verloren in diesem großen Flur steht. Ich frage Sabrina, welche Gefühle dieser Flur in ihr auslöst. „Angst, Panik, Verlassenheit“, sagt sie mit belegter Stimme. „Bleiben Sie in diesen Gefühlen und lassen Sie alle Bilder zu, die in Ihnen hochsteigen, die diese Gefühle in Ihnen auslösen“, ermutige ich sie. Sabrina ist für eine geraume Zeit versunken, sie hat die Augen geschlossen, wirkt konzentriert und entspannt, kann ganz für sich sein, bei sich bleiben. Sie zeigt mir damit, wie sicher und aufgehoben sie sich bei mir fühlt, wie wenig Angst sie bei mir vor Übergriffen hat. Jetzt öffnet sie die Augen und teilt mit mir die Bilder und die Szenen, zu denen sie vor allem das Gefühl der Panik sie geleitet hat:

„Ich bin vier Jahre alt. Ich stehe im Flur und bummere an die Tür. Es ist dunkel. Die Tür ist verschlossen, meine Eltern sind nicht da. Ich bin voller Panik. Ich rufe und schreie, ich gucke durch den Schlitz ins Treppenhaus. Nachbarn hören mich endlich. Sie rufen meine Eltern. Meine Eltern kommen. Sie waren bei Freunden. Sie haben mir nichts gesagt.“

Während sie mir die Situation erzählt, merke ich, dass Sabrina in die Erlebniswelt des kleinen Kindes eingetaucht ist, die Verzweiflung, die Angst, die Hilflosigkeit noch einmal durchlebt. Wie bei Proust der Geschmack des in Tee getunkten Gebäcks Kindheitserinnerungen aufsteigen lässt, so ruft bei Sabrina das Panikgefühl Situationen wach, in denen sie sich ähnlich bedroht gefühlt hat. Die Entstehungsgeschichte der Angst wird für uns beide lebendig. Sabrina versteht, dass die Angst der 18jährigen etwas mit Angst der Vierjährigen zu tun hat. Aber was? Um das mit ihr herauszufinden, bitte ich Sabrina jetzt, aus der Erlebniswelt der Vierjährigen wieder aufzutauchen, zurück in das Therapiezimmer zu kommen, auf den naturfarbenen Freischwinger, den roten Teppich mit den sonnengelben Streifen. Aus einem sicheren zeitlichen und räumlichen Abstand heraus, als 18jährige, betrachtet sie mit mir zusammen die Szene auf einem imaginierten Bildschirm auf der gegenüberliegenden Wand. Die Angst, die Panik der Vierjährigen ist verständlich. Wenn wir beide in die Situation eingreifen könnten, was würden wir tun, wie können wir beide der Vierjährigen helfen, die Situation besser zu bewältigen? frage ich jetzt Sabrina – wir beiden Expertinnen. Ich rege sie an, aktiv Lösungen zu suchen und zu finden. „Vielleicht“, sagt sie nach einiger Zeit des Nachsinnens, „braucht das Kind jemand, der es beruhigt, jemand, der es wieder ins Bett bringt, an dem Bett sitzen bleibt, ihr eine Geschichte vorliest. So wie ich meiner Nichte abends Geschichten vorlese – Gutenachtgeschichten, bei denen sie einschläft und die auch mich ruhig stimmen.“ Sie kann in diese Vorstellungsbilder eintauchen, und die damit einhergehenden Gefühle von Geborgenheit und Aufgehobensein, von Beruhigt- und Getröstetwerden auf sich wirken lassen. Sie kann diese Interaktion mit ihrer Nichte auf sich selber übertragen: sie als 18jährige kann die Vierjährige in sich beruhigen, so wie sie ihre Nichte beruhigen kann.

„Was hätte das Kind gebraucht, bevor das nächtliche Abenteuer passierte? Was hätte es dem Kind leichter gemacht, aufzuwachen und ruhig zu bleiben“? - eine Frage, eher eine Suggestion, die ein neues Vorstellungsbild anregt. „Ein sicheres Gefühl, ein Gefühl, dass nichts Schlimmes passiert, dass die Eltern gleich wiederkommen, dass sie gesund wiederkommen, das hätte dem Kind geholfen“. „Können Sie sich so ein sicheres, geborgenes Gefühl vorstellen, haben Sie so ein Gefühl schon einmal erlebt?“ Sie lächelt und nickt. „Können Sie sich das Kind im Bett mit diesem Gefühl vorstellen?“ Sie nickt wieder und im Raum breitet sich eine ruhige, entspannte, heitere Atmosphäre aus, mit der wir die Sitzung ausklingen lassen.

In dieser Sitzung bin ich eine Art Begleiterin für Sabrina. Ich tauche mit ihr zusammen in ihre Kindheitswelt ein, stehe neben ihr in dem dunklen Flur, erlebe mit ihr zusammen die Bedrohung und die Verlassenheit. Dann aber tauche ich auf, und helfe auch ihr, aus dieser Welt wieder aufzutauchen, vermittle ihr damit, dass ein Wechseln zwischen den Welten möglich ist, das Ein- und Auftauchen, das Erleben und das beobachtende Betrachten.

 

Diese intensive Sitzung löst zunächst eine Serie von Träumen aus, die um das Thema Angst, Trennung und Verlassenwerden kreisen. Auch tauchen aus den unterschiedlichen Lebensstufen Erinnerungen an Situationen auf, in denen sie allein gelassen wurde.

Die erste Situation: 

 „Ich bin fünf Jahre alt, wir sind im Urlaub, ich wache nachts auf, liege allein im Hotelzimmer. Ich springe aus dem Bett und renne in Panik durch das ganze Hotel, bis ich meine Eltern finde, die an der Bar sitzen. Mein Vater spielt mit mir Billard und bringt mich dann ins Bett.“

Zu dieser Situation fällt ihr spontan die folgende ein:

„Ich bin 18 Jahre alt und mit meiner Mutter und ihrem Freund im Urlaub. Wir haben zwei Zimmer bekommen, die in unterschiedlichen Flügeln des Hotels liegen, und ich mache solange Terror, bis wir zwei Zimmer bekommen, die nebeneinander liegen, obwohl das Hotel ausgebucht ist.“

„Merkwürdig“, sagt sie jetzt aus der Distanz, „wie oft ich allein war, allein gelassen und in Panik, und wie meine Mutter dann wieder meinen Ängsten so nachgibt.“ 

 

Sie ist das Nesthäkchen in der Familie, die Kleine. Die ältere Schwester ist seit drei Jahren aus dem Haus, hat eine eigene Familie gegründet, ein Kind bekommen, eben jene Nichte, auf die Sabrina häufig aufpasst. Sabrina hat gerade ihr Abitur gemacht, weiß noch nicht, was sie machen möchte, hat unterschiedliche Ideen. Die Mutter drängt sie zu einer kaufmännischen Ausbildung, die Freundin Lisa – ihr Alter Ego - will Schauspielerin und Sängerin werden. Dazwischen sucht sie ihren eigenen Weg. Obwohl sie gegen die Mutter rebelliert, wirkt sie merkwürdig gebunden an die Mutter. Auch die Mutter scheint Angst vor der Verselbständigung der Tochter zu haben, will sie noch zu Hause halten, braucht sie in ihrem Klein- und Abhängigsein. Insofern verbindet die Angst beide miteinander. So gibt die Mutter ihren Ängsten immer wieder nach, verhindert dadurch, dass sie ihre Angst bewältigen lernt. Über die Angst fühlen sich Mutter und Tochter nahe. Die Angst macht sie zu Komplizen gegen eine Verselbständigung. Das könnte der familiendynamische Hintergrund für das Fortbestehen der Ängste sein. Eine altersentsprechende Loslösung soll nicht stattfinden. Mutter und Tochter wollen und können sich nicht voneinander trennen. Ob das etwas mit dem Vater zu tun hat, der sie beide verlassen hat?

 

Die Küchenszene

Die Eltern trennen sich in den Wirren der Wendezeit. Zwei Jahre später zieht die Mutter mit ihr in den Westen. Sabrina ist elf Jahre alt. Der Vater bleibt im Osten. Er gründet eine neue Familie, ist damit überfordert, hat Sabrina nicht mehr im Blick. Sie fühlt sich vernachlässigt. Sie kann nicht mehr mit ihm reden, er hört ihr gar nicht zu, wirkt am Telefon oft abwesend. Früher hat sie ihn geliebt, mehr als die Mutter, die ängstlich und überfürsorglich ist, der zwei Jahre älteren Schwester näher steht.

Mit dem Umzug in den Westen verliert Sabrina den Vater, alle Freundinnen, ihre gewohnte Umgebung. Sie wird von der DDR-Einheitsschule in ein westliches Gymnasium umgeschult. Auf diesen radikalen Umbruch reagiert sie mit einer heftigen, fast lebensbedrohlichen Erkrankung. Sie liegt drei Monate im Krankenhaus, doch beide Eltern sind zu sehr mit sich und ihrem Neuanfang beschäftigt. Sie können sich nicht um sie kümmern. Eine traumatische Erfahrung. Alleingelassen, im Stich gelassen werden. Auch diese Erinnerung wird nun wieder lebendig. Und mit ihr die begleitenden Gefühle: die Wut, die Verzweiflung, die Enttäuschung. Dazu fällt ihr „die Küchenszene“ ein: Sie ist acht Jahre alt und steht in der Küchentür. Sie ist aufgewacht. Die Eltern streiten sich. Sie kann nicht mehr einschlafen. Sie läuft in die Küche. Der Vater sagt, er habe eine neue Freundin, er sagt, dass er die Familie verlassen wird. Die Mutter weint. Sie ist verzweifelt, bricht ein, ist wochenlang nicht ansprechbar. Sabrina und die ältere Schwester halten sich aneinander fest und trösten sich. Der Vater ist verschwunden, bei der Freundin eingezogen. Viele Sitzungen beschäftigt uns dieses Erlebnis. Es ist für sie ein Schlüsselerlebnis. Jedes Alleingelassenwerden ruft wieder die Gefühle des verlassenen Kindes in ihr wach – nicht nur die Panik, auch die Wut, den Hass, die Verzweiflung. Das Bild der hilflosen Mutter. Der Vater, der sie im Stich lässt. Zunächst wird sie von ihren Gefühlen überschwemmt. Sie will hassen, hassen, hassen, dann wird sie traurig, fällt ins Bodenlose. Dass der Vater, den sie so geliebt hat, ihr das angetan hat! Kann sie, nachdem der Vater ihr Vertrauen, ihre Liebe so missbraucht hat, sie so enttäuscht hat, noch einen Mann lieben, einem Mann vertrauen, sich auf einen Mann einlassen? Als sie in die Therapie kam, war sie auf der verzweifelten Suche nach einem Freund. Sie wünschte sich einen und wich jeder nahen Begegnung aus. Schon damals beschäftigte uns der Vater mit seinen zwei Gesichtern: Er konnte liebevoll sein, aber auch sehr jähzornig und gewalttätig. Quälende, mal verschwommene, dann wieder glasklare Erinnerungen an ihn wurden oft ausgelöst durch ihr unverständliche Bedrohtheitsgefühle, wenn ihr ein Mann zu Nahe kam. Aber: Nach drei Monaten harter therapeutischer Arbeit lernt sie einen Gleichaltrigen aus der Parallelklasse kennen, Jonas, fürsorglich und flippig zugleich. Sie wird krankhaft eifersüchtig und reagiert panikartig auf seine Alleingänge, was ihn wiederum immer eigenwilliger macht. Eine ungute Dynamik entsteht. Jetzt nähern wir uns einer der Quellen, die diese Verhaltensweisen speisen. Das tut weh, ist schwer zu ertragen, kann erst nach einer Reihe von guten Erfahrungen mit der Therapeutin überhaupt zugelassen werden. Es muss die Hoffnung geben, aus jedem noch so tiefen Loch auch wieder herauszukommen. Nachdem sie viele Sitzungen getobt und gewütet hat, und bitterlich geweint, frage ich sie, ob es damals jemand gab, dem sie vertraut hat, der ihr hätte helfen können. Ihr fällt die damalige Freundin der Mutter, Anne, ein, die eine gleichaltrige Tochter hatte, ihre Freundin Thea. Anne hatte sich damals um sie gekümmert, als es der Mutter so schlecht ging, oft etwas mit ihr unternommen. Sie stellt sich jetzt eine Szene zwischen Anne und der achtjährigen Sabrina vor, eine Szene, die so nicht stattgefunden hat, die aber hilfreich gewesen wäre. In einer Sitzung ist sie das verzweifelte Kind, das von Anne getröstet wird. Sie malt sich aus, wie sie als Achtjährige von Anne in den Arm genommen wird. Sie hört Anne tröstende Worte mit sich sprechen: „Ich bin für dich da. Ich halte zu dir“. Sie spürt die Wärme, die Geborgenheit und den Halt, den ihr Anne gibt. In der nächsten Sitzung schlüpft sie in Annes Rolle und tröstet die Achtjährige. Dieses wiederholte Erleben der beiden Rollen, der Rolle der Trösterin, der Geborgenheit Schenkenden, und der Rolle der Geborgenheit und Trost Empfangenden ermöglichen es ihr, das traumatische Erlebnis zu verarbeiten, hilfreiche innere Dialoge zu entwickeln und zu verankern.

 

Jetzt steht die Auseinandersetzung mit dem Vater an. Sie stellt sich Bernd vor, einen Kollegen und Freund des Vaters, ein stämmiger, großer Mann, humorvoll, der viel mit ihr gelacht, ihr Geschichten erzählt hat. Als Bernd spricht sie ernste Worte mit dem Vater: „Kümmere dich um deine Kinder! Du kannst sie nicht einfach so allein lassen!“ Das tut ihr gut. Der Vater steht mit gesenktem Kopf vor Bernd. Er schämt sich. Das genießt sie.

Und jetzt der Vater sein, der Bernd zuhört? Nein, das will und kann sie nicht. Nicht wie der Vater sein, schon gar nicht der Vater sein! Ich lasse sie. Die Aussöhnung mit dem Vater ist schwer. Sie braucht Zeit. Wenn nicht jetzt, dann bei einem späteren Thema. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Es wird in ihr arbeiten.

 

Begegnung im Traum

Das Auftauchen der Küchenszene mit all den schmerzlichen Gefühlen hat ihr gezeigt, wie aktuelle Trennungserfahrungen alte traumatische Erfahrungen beleben, aber sie spürt auch, dass ihr als 18jährigen andere Möglichkeiten der Verarbeitung zur Verfügung stehen, dass sie heute nicht so ausgeliefert ist, nicht so hilflos, nicht so angewiesen, wie sie das als Achtjährige war. Das wird für sie eine zentrale emotionale Erfahrung. Sie kann immer besser unterscheiden zwischen einer Trennung, wie sie eine Achtjährige erlebt, und was mit der 18jährigen passiert, wenn der Freund etwas alleine unternehmen möchte. Sie merkt, dass sie manchmal als die Achtjährige auf seine Alleingänge reagiert, die sie als 18jährige durchaus anerkennen kann. 

Eine Situation aus dem letzten Urlaub, den sie zusammen mit ihrem Freund Jonas und dessen Freund Ulli verbrachte, mag das veranschaulichen.

„Es ist vier Uhr in der Nacht. Ich liege im Bett. Jonas und Ulli machen Lärm. Licht fällt in das Zimmer. Ich raste aus, schreie rum. Dann plötzlich weiß ich, es sind nicht Jonas und Ulli, über die ich mich aufrege. Ich rege mich auf, weil mich ihr Lärm an die nächtlichen Streitereien meiner Eltern erinnert hat, die ich gehasst habe, die ich gefürchtet habe, von denen ich aufgewacht bin, und nicht mehr einschlafen konnte, mit klopfenden Herzen wach gelegen. Sie werden sich trennen. Ich werde meinen Vater verlieren. Ich kriege voll die Wut und werde traurig. Ich schlafe wieder ein und träume:

Ich laufe mit Jonas und Ulli durch eine Stadt mit ganz vielen kleinen Gassen. Ich bleibe an einer Treppe stehen und gucke nach oben. Ich sehe eine Mauer und an der ist eine Gittertür eingefasst. Dahinter steht ein kleines Mädchen, das sich festhält und mich anguckt. Im ersten Moment sehe ich das Kind und auf einmal fällt mir auf, dass ich das bin. Ich als kleines Mädchen. Im ersten Moment war ich ganz aufgeregt. Ich habe zu Ulli gesagt: Guck mal, da oben, da bin ich. Zuerst war da Freude, die hat sich dann in arges Entsetzen gewandelt. Ich hab mich erschrocken, mein Gott, ich sehe mich. Ich bin nach oben gerannt, war ganz aufgeregt, habe die Tür aufgemacht. Das Mädchen ist weggerannt. Ich bin hinter ihr her gerannt durch die Gassen. Ich bin aufgewacht, innerlich abgehetzt.“

Ich frage sie nach ihren Einfällen zu dem Traum. „Erst war ich ganz erschrocken, mich als kleines Kind zu sehen. Dann bin ich auf das Mädchen zugelaufen. Warum ist es weggelaufen? Manchmal kann ich mich annehmen, manchmal lehne ich mich ab. Manchmal möchte ich etwas über dieses Kind erfahren, dann wieder schrecke ich zurück. Die Wut, die Verzweiflung, die Angst der Vierjährigen, das ist so schwer auszuhalten. Manchmal verstehe ich, dass ich älter bin, dass ich andere Möglichkeiten habe, wie Sie immer sagen. Dann aber gibt es Situationen, da bin ich das kleine Mädchen. Da fühle ich so, verhalte mich so. Sie läuft weg, weil sie Angst vor mir hat. Vielleicht denkt sie, ich mag sie nicht, ich behandele sie schlecht, will, dass sie weggeht, aus meinem Leben verschwindet. Es fällt mir so schwer, sie als einen Teil von mir anzunehmen.“

Die Auseinandersetzung mit den Gefühlen und Bedürfnissen des kleinen Kindes, für die nun sie verantwortlich ist, das Abschiednehmen von den Schutzräumen der Kindheit, so löcherig sie auch manchmal waren, das Verändern von vertrauten, aber einschränkenden kindlichen Erlebnis- und Verhaltensweisen ist ein schwieriger, langfristiger(lebenslanger?) Prozess, dessen Hin und Her Sabrina hier anschaulich beschreibt.

Als ihre Mutter das nächste Mal verreist, hat sie sich ein abgestuftes Alleinbleibprogramm ausgedacht: Erster Abend: Ich leihe mir einen spannenden Film aus und gucke ihn alleine. Zweiter Abend: Ich bin mit Jonas verabredet – mal sehen. Dritter Abend: Heute mache ich was für mich: Malen, Musik hören, eine Geschichte schreiben. Zur nächsten Sitzung bringt sie mir stolz die Planung, und was sie dann wirklich gemacht hat, mit. Es gab Abweichungen, aber sie hat es an mehreren Abenden geschafft, allein zu bleiben.

Das Thema „Alleinbleiben“ verliert so immer mehr an Bedeutung, wird durch andere, drängende Themen abgelöst. Wichtige Entscheidungen stehen an, die sie bisher vor sich hingeschoben hat, mit Aushilfsjobs überbrückt: Soll ich studieren, und wenn ja, was? Soll ich lieber eine Ausbildung machen? Soll ich in Berlin bleiben oder weggehen? Mit dem Freund zusammenziehen oder in eine WG? Und: Immer wieder verliebt sie sich in andere Männer, obwohl sie doch ihren Freund liebt und ihm auch treu sein will. Sie fragt mich: Kann man zwei Männer gleichzeitig lieben, darf man zwei Männer lieben, ist das nicht unmoralisch? Vor allem darf ich zwei Männer lieben, bin ich dann nicht wie mein Vater, den ich doch für seine Untreue gehasst habe. Können auch hier die Achtjährige und die mittlerweile 19jährige unterschiedliche Gefühle, unterschiedliche Haltungen haben?

Aber das wird eine neue Geschichte… 

 

Regina Konrad Deidesheimer Str. 1A 14197 Berlin

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Regina Konrad

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