Erstes Gespräch mit den Eltern der 13jährigen Simone  

 

Die Eltern stehen pünktlich vor der Tür. Der Vater: mittelgroß, blond, blaue Augen, lässig gekleidet. Die Mutter ist kleiner, hat braune Augen, wirkt wärmer als der Vater, sieht Simone ähnlich. Beide setzen sich mir gegenüber vorne an den Tisch. Sie sind wenig aufeinander bezogen, buhlen um meine Aufmerksamkeit, meine Zustimmung. Zunächst spreche ich mit der Mutter Einleitendes. Sie berichtet von Simones Geburtstag vor ein paar Tagen: Sie versorgt die Freunde nicht. Es sollte nur klein geschnittenes Gemüse geben. Sie habe dann einen Kuchen gebacken, einen Dipp gemacht und Bouletten gekauft. Das habe Simone gestört. "Sie ist dauernd gereizt, alles stört sie", beklagt sich die Mutter. Und: "Sie hat große Angst zuzunehmen."

Da mischt sich Vater ein: „Ich sehe es schlimmer“, platzt er heraus, „dramatischer. Sie macht keinen Sport mehr, zieht sich zurück, stöpselt das Telefon aus, bedankt sich nicht für die Geschenke, fühlt sich genervt.“ Anfänglich will die Mutter noch gegensteuern, abmildern. Ich sage: Der Vater soll seine Sicht schildern, sie könne danach ihre Perspektive darstellen.

„Es ist eine Symbiose mit der Mutter“, fährt er fort, „eine Symbiose im Leiden. Sie schlafen zusammen in einem Bett"(die Mutter: nicht mehr). Neulich hätten sie einen Grillabend gemacht und „Königin Simone“ sei zehn Minuten zu einer Stippvisite erschienen. Seit 1-2 Jahren sei "Papatag" und er wollte mit ihr zur Ladys’ Night, aber sie wollte nicht. Alle äßen da Salzstangen. Mit den jungen, überdrehten Mädchen könne sie nichts anfangen. "Alles stört sie", sagt der Vater: "Sie ist ohne Lebensfreude, zieht sich zurück, ist isoliert, hat keine Freunde. Früher haben wir viel zusammen unternommen. Aber jetzt will sie alles, was ich mit ihr gemacht habe, nicht mehr machen. Ich fühle mich als Vater außen vor. Die Distanz wird immer größer, sie isst nicht mehr mit uns zusammen, isst nur noch alleine."

(Es ist ein Schwall von Vorwürfen, ich habe das Gefühl, er sieht die Not des Mädchens nicht, sondern nur, was sie ihm damit antut. Er fühlt sich zurückgewiesen.)

Ich frage jetzt nach der Ehegeschichte.

Sie hätten sich vor einem Jahr räumlich getrennt. Er sei eine Etage tiefer gezogen, Simone habe sein Zimmer bekommen. Sie sei erst einmal bei ihm unten gewesen und habe sich seine Wohnung angesehen. Michel(der Bruder) sei viel öfter unten gewesen.

„Sie hat sich aus allem rausgezogen, was mit Leben zu tun hat, was mit Spaß am Leben zu tun hat. Sie hat keine Lebensfreude, sitzt am Rechner und chattet, eingehüllt in eine Decke wie eine alte Oma, friert auch bei 30 °.  Ich will mit ihr rausgehen, aber sie will nicht. Andere junge Mädchen gehen shoppen, in die Disco, die Mütter beschweren sich bei mir: die Mädels seien zu lange weg. Simone nicht.“

Ich frage jetzt nach, was er mit der Symbiose im Leiden meinte und er sagt: „Auch Sabine(die Mutter) ist nicht so glücklich, sie ist schnell auf 180. Ich sage: Hallo Schatz, wie geht es Dir und das ist eine Anmaßung. Ich will sie zum Essen einladen, aber sie will nicht. Sie schlafen in einem Bett mit den Katzen. Wir haben unterschiedliche Meinungen, und es heißt immer, ich soll den Mund halten.“

Die Mutter: „Simone will nicht, dass wir über sie reden.“

Der Vater: „Die Ehe ist seit 10 Jahren auseinander.“

Die Mutter fragt erstaunt: „Seit 10?  Ich dachte, seit 8 Jahren.“

Der Vater: Sie hatten 11 Jahre lang eheähnlich gelebt, bevor die Kinder kamen, hatten eine schöne Zeit, seien viel gereist. Durch die Kinder sei Sabine gereizt geworden, wurde nach den Schwangerschaften unnahbar, habe 25 Kilo zugenommen. „Für mich war sie dadurch sexuell uninteressant und ich hatte wechselnde Geliebte, hatte immer eine eigene Wohnung. Die Frauen wissen nicht, wo ich wohne, sie  haben mich unter einer anderen Adresse kennen gelernt. Die Geliebten sind  schlank, weiblich schlank.“

Die Mutter:"Ich habe mich nach der Geburt der Kinder allein gelassen gefühlt, war gereizt, konnte nächtelang nicht schlafen. Er hat nichts übernommen, hat mich nicht unterstützt, sein altes Leben weiter gelebt."

Sie wurde noch einmal schwanger, trotz Spirale, habe einen Abbruch machen lassen, hätte ein weiteres Kind nicht verkraftet. Daran habe sie schwer geknabbert, es bis heute nicht verdaut. Danach lief sexuell nichts mehr. Sie hatte tierische Angst, noch einmal schwanger zu werden.

Die Augen der Mutter füllen sich während des gesamten Gespräches immer wieder mit Tränen, als sie über den Schwangerschaftsabbruch berichtet, weint sie.

Der Mann habe sie in der Zeit alleingelassen.

Der Vater: Als Paar hätten sie sich gut verstanden, sie sei die beste Frau für ihn bis heute. Die Geliebten zählten alle nicht. Sie habe 20 Kilo zugelegt. „Ich war sauer, empfand es als Provokation. Sie hat keine Bereitschaft gezeigt, etwas zu ändern.“

Ich frage nach der Genese:

Der Vater fragt mich verunsichert, was er erzählen soll. Schulbildung und so?

Er sei in Aachen geboren worden und mit vielen anderen Kindern aufgewachsen. Jetzt wird er wirr, ich kann ihm irgendwie nicht folgen und sie ergänzt: Die ersten zwei Jahre sei er bei einer Tante in Berlin aufgewachsen, die viele Kinder - eigene und Pflegekinder - hatte.  Seine Eltern seien nach Berlin gekommen, als er zwei Jahre alt war. Da sei dann auch seine Schwester geboren worden.

Nun berichtet der Vater, dass seine Eltern lebenslustig waren, es gab viele Partys. Einmal habe sogar das Jugendamt vorbeigeschaut, ob er ordentlich versorgt würde. "Dieses schöne, leichte Leben hat auf mich abgefärbt", sagt er. In der Grundschule war er mittelmäßig. In der 8. 9. Klasse, auf dem Gymnasium, hatte er eine Krise. Er war körperlich zurück, das war unter den Jungen fatal, er war gleich Opfer in der Klasse, hat sich zurückgezogen, war isoliert.

In 9. 10. Klasse hat er dann aufgeholt, wurde gesellig, es gab viele Mädchen, Party machen, das Abitur habe er trotzdem gut geschafft, danach BWL studiert und  abgeschlossen, sich in der Versicherungsbranche selbständig gemacht. Schon im Studium habe er damit Geld verdient. Nebenbei sei er noch in den Immobiliensektor eingestiegen, habe Häuser verwaltet und gekauft, verkauft, vermietet.

Bis zur Schwangerschaft von Michel sei alles intakt gewesen. Dann sei Sabine ihm gegenüber zynisch geworden - so habe sie zu dem Säugling gesagt: Michel, sag Deinem Vater mal, dass er die Windel falsch herum hält. Sie sei immer unzufrieden gewesen und gereizt, er konnte ihr keine Freunde mehr machen. Geschenke habe sie gar nicht beachtet. Sie wirft ein: "Ich wollte keine Geschenke, ich wollte Unterstützung" Er: "Du hast gar nicht gesehen, was ich getan habe. Im Vergleich zu anderen Männern habe ich viel gemacht, z.B. der Papatag." Sie: "Der war später." "Es hat angefangen", sagt er, "dass wir ständig alles aufgerechnet haben, wer hat was gemacht." Er: "Ich war immer noch gesellig, hatte einen großen Freundeskreis. Sabine war immer k.o."

Die Mutter: "Ich habe mich allein gefühlt. Überfordert."

Ich wende mich an den Vater: "Mir fällt auf, dass Sie die Beziehung zu Ihrer Frau nach der Geburt der Kinder und das Verhalten von Simone jetzt in der Pubertät ähnlich beschreiben. Sie fühlen sich zurückgewiesen, abgewiesen. Gab es in Ihrer Familie jemanden, von dem Sie sich auch so abweisend behandelt fühlten?" Er denkt nach: "Partiell von meiner Schwester", sagt er. Die Mutter: "Sie sagt, Du hast sie immer gepiesackt: Fettsack zu ihr gesagt." Er: "Sie war dick, hat dann abgenommen. Als Kinder war es schwierig zwischen uns. Jetzt ist es besser geworden."

Eine interessante Antwort. Ich hatte an seine Mutter gedacht. Sie hat ihn nach der Geburt weggegeben. Ein traumatisches Erlebnis, das er als solches nicht bewusst erlebt, aber im Erstgespräch durch sein plötzliches Verwirrtsein ausdrückt. Was er spürt, ist die Benachteiligung gegenüber der Schwester, die bei den Eltern aufwachsen durfte. Ich frage mich, ob dieses Gefühl von Benachteiligtsein mit der Geburt der Tochter wieder mobilisiert wurde, er sein eigenes Weggegebenwerden noch einmal erlebte: seine Frau wendet sich dem Kind zu, das nun etwas bekommt, was er nicht bekommen hat. Er reagiert darauf, in dem er nun seinerseits seine Frau verlässt. Er wendet das schmerzhafte Gefühl von Im-Stich-Gelassenwerden um in ein aktives Verlassen.

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