Doofe 14!

 

Sara: Ein Kind verweigert sich

 

„Warum muss ich doofe 14 sein und nicht 20? Es ist eklig, so abhängig zu sein - von diesen blöden Eltern. Die kümmern sich doch sowieso nicht um mich.“

Der Stoßseufzer einer verzweifelten 14 Jährigen. Ihr Vater hatte sie vor ein paar Wochen bei mir angemeldet, weil sie nicht mehr zur Schule ging. Sie blieb einfach im Bett liegen.  Er war dann meist schon auf Arbeit im fernen Brandenburg und musste sich um seine Patienten kümmern, konnte sie nur anrufen und ermahnen. „Geh zur Schule.“ Manchmal aber nahm sie gar nicht ab. Zunächst hatte er sich keine Sorgen gemacht. Sie war die letzte von sieben Kindern, alle waren in der Pubertät schwierig, so wie er es auch war - damals. Er dachte zunächst: „Das wächst sich aus.“ Dann - eines Morgens - saß sie mit einem Messer in der Hand im Bett. Sie höre Stimmen, habe sie zu ihm gesagt, sie wolle sich umbringen. Da war er alarmiert. Die Mutter – seine Ex -  käme aus einer vorbelasteten Familie, berichtet er mir, der Bruder habe die Freundin umgebracht, war in der Psychiatrie, habe sich dann selber umgebracht, der Vater der Mutter sei schizophren gewesen. Manchmal ähnle die Tochter der Mutter, sei so dominant wie sie, habe auch dieses komische Lachen. Das irritiere ihn.

Sara ist ein hübsches, etwas frühreifes Mädchen - ein wenig übergewichtig mit strahlend blauen Augen. Sie wirkt auf den ersten Blick vital und fröhlich auf mich, gar nicht so gestört wie der Vater sie beschrieben hat - dann aber - im Laufe des Gespräches - doch sehr verloren, verzweifelt, allein gelassen und unglücklich.

Sie könne mit niemanden reden, sagt sie mir zu Beginn unseres ersten Gespräches. Ihre Geschwister seien alle wesentlich älter und schon von zuhause ausgezogen. Sie lebe jetzt allein beim Vater, der viel arbeiten müsse und sich nicht um sie kümmern könne. Sie sei eigentlich schon immer ganz alleine gewesen. „Auch als Kind hatte ich keinen.“ In der Schule sei sie immer gut gewesen, hatte in der Grundschule eine beste Freundin. Bis vor einem halben Jahr habe sie bei der Mutter gewohnt, sei dann zum Vater gezogen. Die Eltern hätten sich getrennt, als sie acht Jahre alt war. Auch vorher habe es immer ein Hin und Her gegeben. Mal hatte die Mutter einen Freund, dann der Vater eine Freundin. Mal hätten sie mit dem Vater gelebt, mal mit der Mutter. Als die Eltern sich getrennt hätten, wollte sie mit dem Vater gehen, musste aber bei der Mutter bleiben. Der neue Freund der Mutter sei ein Prolet, mit dem habe sie sich dauernd gestritten. Der habe sie geschlagen, und die Mutter habe nichts gemacht. „Die Mutter hat was gegen mich, als wenn sie mich hassen würde. Ich kann sie auch nicht leiden. Alles ist so oberflächlich, so falsch bei ihr. So kommt es mir jedenfalls vor.“

Ich frage sie, was sie gerne macht und was sie gut kann.

„Ich lache viel in der Schule, bin lustig. Ich kann gut Kopfrechnen. Ich lese gern, am liebsten Steven King, gruselige, aber auch traurige Sachen. Ich mag den Rapper Eminem, überhaupt Hiphop. Da kann ich gut abtanzen.“ Sie chatte, hinge ganze Nächte im Internet. Am liebsten würde sie mit 30-, 40-Jährigen über Probleme reden, mit Gleichaltrigen käme sie nicht gut aus.

Und die Schule?

Sie gehe seit Wochen nicht mehr zur Schule. Die Situation in der Klasse sei für sie unerträglich. Eine Clique von Mädchen, darunter ihre ehemals beste Freundin, sei gemein zu ihr. „Ach, lässt Du Dich auch mal wieder blicken“, hätten sie gesagt, als sie nach längerer Fehlzeit wieder zur Schule kam. Einige Lehrer könnten sie nicht leiden. Außerdem seien alle Geschwister auf der Schule gewesen und sie würde immer mit ihnen verglichen. In Deutsch, Kunst, Musik  sei sie ganz gut, in Französisch sei der Lehrer doof, Bio mache sie gern. Der Mathe- und Chemielehrer sei schwul; er könne Mädchen nicht leiden, gucke sie immer so von oben herab an. Er habe gesagt: „Wenn Ihr das nicht kapiert, dann gehört Ihr nicht hierher.“

Sie habe in letzter Zeit viel mit ihrer Freundin gestritten. Die sei so dominant, wolle sie bestimmen. Die Freundin wohne bei der Mutter um die Ecke und verpetze sie immer bei der Mutter. Mit einem anderen Mädchen in der Klasse verstände sie sich gut, mit der könne sie gut lachen und reden.

Der Vater sei fast gar nicht zu Hause. Er fahre morgens ganz früh schon zur Arbeit  und käme abends sehr spät zurück. Er habe eine neue Freundin, die habe 3 Kinder. Sie lebe in einer kleinen Stadt und am Wochenende führe der Vater zu ihr. Der Vater wolle zu dieser Frau ziehen. Sie wolle aber nicht mitziehen, wolle in Berlin bleiben. Sie habe das Gefühl, ihm im Wege zu stehen.

Die Mutter habe die Geschwister gegen sie aufgehetzt. Jedes zweite Wochenende müsste sie eigentlich zu ihr, wolle aber nicht da hin. Es gebe eine Art Spaltung in der Familie. Die Kinder, die zum Vater hielten, und die Kinder, die zur Mutter hielten. Man könne nicht die Mutter hassen und weiterhin guten Kontakt zu „ihren Kindern“ halten. Entweder – Oder. Dazwischen gäbe es nichts.

 

Ich bin nach diesen ersten Sitzungen berührt von ihrer Einsamkeit und ihrer Verzweiflung, aber auch beeindruckt von ihrer Stärke und ihrer Reflektionsfähigkeit.

 

 

Erste Überlegungen

Sie hat keinen Ort, an dem sie sich wohl und geborgen fühlt, denke ich mir nach diesen ersten Sitzungen. Beide Eltern wollen endlich ihr eigenes Leben leben, sie machen sich auf zu neuen Ufern, Sara stört dabei, und das spürt sie. Sara flieht von der Mutter, die sie als eng und stur, dominant und feindselig beschreibt, zu dem als großzügig erlebten Vater, von dem sie sich mehr Freiheit verspricht, und landet nun in einem Zuhause ohne Orientierung und Struktur, ohne Halt. Sie ist, und das vergisst man schnell bei ihrer Sprachgewandtheit und Reflektionsfähigkeit, gerade 14 Jahre alt geworden und durch den Freiraum, den der Vater ihr lässt, ja sogar von ihr einfordert, überfordert. Sie braucht Eigenständigkeit und Fürsorge, vor allem Struktur und Sich- reiben- Können, und ist enttäuscht, dass der Vater sich entzieht, nicht für sie da ist. Der Vater, den ich als einen weichen und nachgiebigen, dabei selbstunsicheren Mann erlebe, kann ihr wenig Grenzen setzen. Er selber erscheint zu Beginn der Therapie in einer Kindposition, unterwürfig, verstrickt in seine eigene Lebensgeschichte mit vielen Brüchen und Traumatisierungen, immer Opfer dominanter Frauen, die für ihn gehandelt haben, und interagiert aus dieser Position mit seiner Tochter, die er als ähnlich dominant erlebt wie ihre Mutter. Im Grunde hat er Angst vor ihr. Er dämonisiert sie, sieht in ihr das Verrückte der Familie der Mutter verkörpert und würde sie am liebsten in die Psychiatrie einweisen lassen. Seine Lebensgefährtin  beschreibt er als warmherzig und empathisch. Sie könne sehr gut mit Sara reden, und er verstehe gar nicht, warum Sara sich gegen sie so verschließen würde. Da sie selber drei zum Teil noch kleine Kinder habe, arbeite sie nur halbtags und könne sich gut um Sara kümmern. Sie könne eigentlich alles, was Sara fehle, zur Verfügung stellen.

 

Sara kann und will aber offensichtlich von dieser neuen Freundin nicht profitieren. Sie will den Vater endlich für sich allein haben, will ihn mit niemandem teilen, schon gar nicht mit drei neuen Geschwistern. Sie muss sehr heftig agieren, um ihn zu erreichen, um ihren Willen gegen ihn durchzusetzen. Dadurch erscheint sie zunächst sehr gefährdet. Immer wieder reagiert sie auf das als Zurückweisung erlebte Verhalten des Vaters mit heftigen Aktionen. Mehrere Male läuft sie weg, streunt am Bahnhof Zoo, sucht Gleichgesinnte, Gleichgeschädigte. Einmal läuft sie weg und schreibt einen Abschiedsbrief, kann von ihrer Schwester wieder „eingefangen“ werden, einmal trinkt sie in ihrer Wut und Verzweiflung Nagellackentferner mit Orangensaft.  Sie demonstriert ihrem Vater eindrücklich, wie schlecht es ihr mit ihm geht, wie vernachlässigt sie sich von ihm fühlt. Der Vater wiederum verweigert sich ihr trotzig, er überfrachtet sie mit seinen eigenen inneren Bildern, mit seinen Phantasien, mit seinen Zuschreibungen, kann das bedürftige Kind in ihr nicht sehen. Das bedürftige Kind macht ihm Angst und überfordert ihn, da er sich selber als bedürftig erlebt, selber Wärme und Geborgenheit, ein Nest sucht. Sie verlange von ihm, dass er seine Bedürfnisse hinten an stelle, dass er sich für sie opfere, sagt er mir in einem der vielen Beratungsgespräche, die ich mit ihm führe und in denen ich seinen Teil an der negativen Dynamik mit ihm bearbeite, in denen ich ihn in seiner Vaterfunktion bestärke.

 

Vater und Tochter kämpfen heimlich miteinander  um die bedürftige Position, heimlich, weil sie ihre Bedürftigkeit, die sie als ein beschämendes Angewiesensein erleben, nicht zeigen dürfen. Sie haben beide Angst als Bedürftige zurückgewiesen zu werden, verhöhnt und ausgelacht, und tun sich beide schwer, Wünsche zu äußern, zu sagen, was sie voneinander wollen. Sie reagieren beide enttäuscht, wenn der andere ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht intuitiv erkennt und sich danach verhält. So ist eine Dynamik zwischen ihnen entstanden, in der beide dem anderen den Willen indirekt durch Handeln aufzwingen wollen. Sara, indem sie immer heftiger agiert, der Vater, indem er sich immer mehr entzieht, starke Frauen einbindet, zwischen sich und die Tochter schiebt. Sie sagt: „Er ist gar nicht an mir interessiert. Er interessiert sich nur dafür, dass ich zur Schule gehe, dass ich funktioniere.“ Er sagt: „Sie will, dass ich nur für sie da bin. Das geht nicht. Ich muss arbeiten gehen. Ich kann sie nicht rundum versorgen. An meinen freien Tagen geht sie zur Schule, wenn ich mit ihr Hausaufgaben gemacht habe, geht sie auch. Sie will mich zwingen, für sie da zu sein.“ Beide meinen also, sich voreinander schützen zu müssen, meinen, dass der andere das, was sie brauchen, ihnen nicht geben will.

Sara fühlt sich durch das Verhalten des Vaters erneut im Stich gelassen. Sie hat das Gefühl: „Keiner ist für mich da. Keiner sieht mich, sieht, wie es mir geht, wie verzweifelt ich bin. Ich bin ganz allein. Keiner liebt mich. Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden. Ich bin nicht liebenswert.“  Ein tiefes Gefühl innerer Einsamkeit. Ich werde als die, die ich bin, nicht gesehen, nicht anerkannt, nicht verstanden. Die Unfähigkeit der Eltern, sie als Person zu sehen und anzuerkennen, nimmt sie als Aussage über ihre Person. Ich bin eine, die man nicht lieben kann. Mit diesem Gefühl geht sie ins Leben, durch das Leben. Das ist ihre Folie, auf der sie das Verhalten der Anderen beurteilt. Auch in der Schule legt sie jedes Wort  auf die Waagschale. Jedes Verhalten der Lehrer, jeden Blick der Mitschüler sieht sie als schmerzlichen, verletzenden Beweis dafür, dass sie mangelhaft, nicht liebenswert ist, dass sie nicht dazu gehört. Sie hat große Angst vor Kritik, Zurechtweisungen und Ermahnungen durch die Lehrer, erlebt sie als Demütigung. Sie hat das Gefühl, schlechter als die Geschwister, schlechter als die Mitschüler zu sein, die sie allesamt für privilegierter hält. „Alle Geschwister haben die Schule geschafft, nur ich nicht.“ Und: „Alle haben eine Familie, ich aber nicht. “ Dieses Gefühl, ein Mangelwesen zu sein und allein zu stehen, ist für sie so unerträglich, dass sie Situationen, in denen diese Gefühle hervorgerufen werden könnten, meiden muss.

Sie geht nicht mehr zur Schule, weil sie das Gefühl der Einsamkeit und das Gefühl, unzureichend zu sein, nicht mehr erträgt. Sie meidet  Situationen, in denen diese Gefühle mobilisiert werden können. Vermeidung ist eine Form der Bewältigung.

Ein weiterer Versuch, ihre schmerzlichen Gefühle der Unzulänglichkeit in Griff zu bekommen, ist ihr Drogenmissbrauch und ihre Internetsucht. Sie weicht in eine andere Welt aus, in der sie erfolgreich sein kann, in der sie jemand anders sein kann, in der sie nicht einsam ist. Sie driftet immer mehr in diese Scheinwelt ab. In dieser Zeit stopft sie sich regelrecht voll mit Spielen, mit übermäßigen Essen, versucht ihre innere Leere aufzufüllen, kann sich selber für diese „orale Gier“, für diese „Haltlosigkeit“ nicht leiden. Auch sie mag dieses gefräßige, kleine, bedürftige Kind, das sich immer wieder gegen ihre guten Vorsätze durchsetzt, nicht leiden. Sie erlebt den Triumph dieses Mangelwesens als Niederlage, als Angriff auf ihre Selbstachtung. Ihr selbstverletzendes Verhalten ist zum einen ein Versuch der Regulation ihrer unerträglichen Gefühle, zum anderen eine Demonstration für den Vater, aber auch ein Versuch diese ungeliebten Teile loszuwerden, abzutöten. Sie will nicht mehr kämpfen und leiden, sich überflüssig und falsch in dieser Welt finden, sie will Ruhe finden, will alle Beschränkungen aufheben. Als Seele, sagt sie, könne sie überall hin fliegen, nach Amerika, zu Eminem, und es gebe keinen Kummer mehr. Tod als nicht endender Tagtraum. Das Paradies. Eine gefährliche, gefährdende Phantasie.

 

 

Wie kann nun Therapie eingreifen in diese destruktiven inneren Dialoge, die zu Selbstverletzungen/Selbsttötungen führen können, in die als verletzend erlebten äußeren Dialoge und Interaktionen mit dem Vater, mit der Mutter, mit der Freundin, mit den Geschwistern? Worin bestehen die Wirkfaktoren einer Therapie?

In der psychoanalytischen Therapieforschung wird die die Erfahrung einer hilfreichen Beziehung, die Fähigkeit des Therapeuten zu verstehen und zu antworten, als ein Wirkfaktor genannt. Eine hilfreiche therapeutische Beziehung  - was könnte das sein? Zum einen bedeutet es eine Haltung, die Haltung der Forscherin, die gemeinsam mit der Patientin herausfindet, welcher verborgene Sinn in ihren Symptomen, in ihren Lösungsversuchen, ihren selbstschädigenden Inszenierungen liegt. Was möchte Sara mit ihren Selbstverletzungen mitteilen, welches konflikthafte Erleben will sie damit bewältigen? Was könnten die Ursachen für ihre misslingenden Interaktionen mit ihrer Umwelt sein? Die verstehende, wohlwollende Haltung der Therapeutin regt die Patientin an, einen verständnisvolleren inneren Dialog mit sich selbst zu führen. Eine wohlwollende Haltung ermöglicht es, dass die Patientin beschämende Situationen mit den damit verbundenen unerträglichen Gefühlen immer wieder in die Therapie einbringt, und sie zusammen mit der Therapeutin noch einmal durchlebt, und dabei andere, adäquatere Formen der Bewältigung und der Selbststeuerung findet. Die niedermachenden inneren Dialoge, die negativen Überzeugungen werden durch das Erzählen aus ihrem Schattendasein gerissen und an das Tageslicht gebracht, betrachtet und hinterfragt? Ist das so? Bin ich wirklich ein Nichts, kann ich wirklich „nichts“, gelingt mir „nie“ etwas. Die Ressourcen, die Fähigkeiten der Patientin, ihre Stärken werden genauso wie ihre Schwierigkeiten wahrgenommen, anerkannt und gewürdigt. Indem der Patientin immer wieder gespiegelt wird, was sie kann und was sie gut kann, verändert sich ihr Selbstbild. Die wohlwollende Haltung der Therapeutin, die Dialoge zwischen Therapeutin und Patientin werden sukzessive verinnerlicht und dadurch Teil der inneren Dialoge der Patientin.

Nun ist es aber zunächst so, dass die Patientin Erwartungen an die Therapeutin hat, Erwartungen, endlich geliebt, verstanden und akzeptiert zu werden, aber auch die Erwartung, wieder enttäuscht zu werden, die Erwartung, dass die Therapeutin sie, wenn sie erst einmal entdeckt, wie - gierig, infantil, unersättlich - die Patientin wirklich ist, sich auch zurückzieht wie die anderen. Und deshalb, weil sie das erwartet, zieht die Patientin sich zurück, kommt nicht zu ihrer Sitzung, vor allem wenn sie etwas getan hat, von dem sie denkt, es könne die Missbilligung der Therapeutin hervorrufen. Sie zieht sich also auch in der Therapie zurück aus Angst vor Zurückweisung und Kritik. Aber auch aus Enttäuschung, weil die Therapeutin für sie nicht immer verfügbar ist, weil auch sie Grenzen setzt, frustriert. Aber indem die Patientin ihre Beziehung zur Therapeutin inszeniert, damit Kindheitsmuster in der Therapie reaktiviert, macht sie diese Muster erlebbar und besprechbar. Sie fordert die Therapeutin auf, sich zu verhalten, sich anders zu verhalten und erlebt, wenn alles gut geht,  eine andere Antwort auf ihr Verhalten. Die Therapeutin nun wird in die negativen familialen Muster  hineingezogen. Sie versteht die inneren Konflikte der Patientin, indem sie sie zum Teil selber durchlebt, sich verstricken lässt und hoffentlich irgendwie aus diesem Strudel wieder herausfindet und damit auch andere Bewältigungsmechanismen vorlebt.

Ich möchte diesen vielschichtigen Prozess anhand von zwei Sequenzen aus der therapeutischen Arbeit deutlich machen.

 

 

Der therapeutische Prozess

 

Ich schaff das sowieso nicht!

 

Nachdem Sara zunächst verschiedene Anläufe auf ihrer alten Schule gemacht hatte, die immer wieder gescheitert waren, sucht der Vater zusammen mit ihr eine Realschule in der Nähe für den Schuljahresbeginn aus, informiert die Schulleiterin über die Schwierigkeiten der Tochter.

Sara macht ein 8wöchiges Praktikum in einer Kindertagesstätte und wird dort als kompetent und zuverlässig beschrieben, ungewöhnlich reif für eine 14-Jährige. Sie hat zu den kleinen Kindern ein gutes Verhältnis, aber auch zu ihren Kolleginnen. Sie wohnt in dieser Zeit in einer betreuten Wohngemeinschaft, in der sie sich sehr wohl fühlt, zieht dann aber wieder zum Vater.

Nach den Sommerferien gibt es also einen neuen Anlauf. Der Vater hatte mir versprochen, sich die erste Woche frei zu nehmen, was er nicht macht. Der Arbeitgeber habe ihm nicht frei gegeben, entschuldigt er sich später bei mir. Sara geht die ersten beiden Tage zur Schule, fühlt sich unwohl. Sie passe da nicht rein, sagt sie mir. Die Mädchen seien so zickig, die Jungen so kindisch und albern. Am dritten Tag bekommt sie morgens Bauchschmerzen, muss sich übergeben und bleibt zu Hause. Nachmittags sprechen wir in der Therapiesitzung über dieses „nicht in die Schule gehen können“, über ihre Gefühle. Bei welchem Gedanken ihr denn schlecht geworden wäre, frage ich sie, auch um eine Verbindung von Gedanken und Gefühlen und körperlichen Reaktionen herzustellen, damit die körperlichen Reaktionen als zu den Gefühlen zugehörig erlebt werden können.

„Als ich an Mathe gedacht habe“, sagt sie, „habe ich gedacht, ich schaffe das sowieso nicht. Ich war so lange nicht mehr in der Schule, ich habe überhaupt keine Lust auf Schule. Es ist so langweilig. Ich würde lieber arbeiten gehen, Geld verdienen. Ich will nicht mehr von meinem blöden Vater abhängig sein, der kümmert sich ja sowieso nicht um mich. Ich will alleine wohnen.“ Und wenig später, als ich sie frage welche Vorstellung ihr helfen würde, zur Schule zu gehen: „Ich brauch jemand, der für mich da ist, jemand, der für mich kocht, der mich fragt, wie war´s in der Schule.“ Ihr fällt dazu ein: „Als ich acht war, da hab ich für kurze Zeit bei meinem Vater gewohnt. Da war mein Vater für mich da, er hat gekocht und sich um mich gekümmert. Die Zeit hab ich als sehr schön in Erinnerung. Jetzt hab ich aber das Gefühl, ich bin meinem Vater im Weg. Ich bin ihm lästig. Er macht mir Vorwürfe: Wegen Dir kann ich nicht schlafen. Er ist genervt von mir. Am Morgen, als ich mich übergeben habe, hat er Stress gemacht. Er hat angerufen und gesagt, ich soll da jetzt hingehen. Dabei habe ich mir selber schon genug Stress gemacht.“ Sie beschreibt mir den inneren Dialog, den sie am Morgen mit sich geführt hat und den sie als erniedrigend erlebt hat, weil die Nein-Stimme gewonnen habe: Komm, geh hin, habe die eine Stimme gesagt. Nein, ich will nicht, die andere. Komm, geh hin. Ich muss, habe sie sich gesagt. Ich will meinen Abschluss machen. Das hat doch eh keinen Sinn, hat die andere Stimme gesagt. Es war ein Hin und Her und dann war ihr sowieso so schlecht und sie musste sich übergeben und habe gedacht, jetzt brauchst du da auch nicht hin, wenn dir so schlecht ist. Es gibt ein Bild, das mag sie erst nicht sagen: Gott hat uns auf die Welt gesetzt, damit er was zu lachen hat. Wir sind sein Fernsehen. Sie habe die ganze Zeit Hass auf die Eltern. „Die haben uns falsch erzogen. Sie waren keine Vorbilder.“

 

Sara beschreibt hier eindringlich ihren Autonomiekonflikt, ihre Wünsche nach Versorgtwerden, nach Schutz und Geborgenheit und die Enttäuschungswut darüber, so allein gelassen zu werden. Ihren Wunsch, unabhängig von den sie enttäuschenden Eltern zu sein, und ihre Abhängigkeit von ihnen, ihre beschämende Angewiesenheit. Sie spürt, dass ihre Schwierigkeiten in der Schule etwas mit ihrer „schlechten Grundausstattung“ zu tun haben, damit, dass sie keine ausreichende Basis hat, um vertrauensvoll ins Leben zu gehen. Gott, der sich über sie lustig macht, steht auch für ihre eigene innere Stimme, die sie begleitet und bekrittelt, sie niedermacht, ihr gnadenlos aufzeigt, wann sie gegen ihre eigenen hohen Ansprüche verstößt, wann sie sich peinlich verhält, eine innere Stimme, der sie nicht entweichen kann. Am Ende der Sitzung gehe ich mit ihr durch die Fächer, die sie bisher in der Schule hatte, und wie sie sich in jedem einzelnen Fach gefühlt hat, damit nicht nur die schlechten Erlebnisse in ihr überrepräsentiert werden. Englisch mag ich, sagt sie. Sie habe einen Text sehr gut vorgelesen, das sei ein Erfolgserlebnis gewesen. Mathe war komisch. Sie habe mit dem Vater Hausaufgaben gemacht. Da habe sie alles verstanden. Aber in der Klasse habe sie das Gefühl: Ich bin ein Versager. Sie sage sich: Toll, jetzt kannst du das schon wieder nicht. Und: Alle müssen dich doch für blöd halten. Was wohl das Gegenteil von dem Gedanken wäre? frage ich sie. „Ich schaff das schon. Ich kann die Aufgabe lösen.“ Ob sie schon einmal in einer schwierigen Situation war und dachte, ich schaff das nicht und sie hat die Situation dann doch geschafft? „Als ich mich einmal im Urlaub verlaufen hatte und dann nach Hause gefunden habe.“ Das ist für sie ein sehr schönes Bild.

 

Ich geh da nicht mehr hin!

 

Zur nächsten Sitzung kommt sie resigniert und enttäuscht, aber auch erleichtert. Sie sei wegen einer Darmentzündung krank geschrieben, sie habe morgens blutigen Durchfall gehabt. Sie habe sich entschieden: Ich geh da nicht mehr hin. Ich habe Angst, sagt sie, mich vor anderen zu blamieren. Wir finden zusammen heraus, wie schwer es ihr fällt, sich auf den Lernprozess einzulassen. Das sei ja ein Eingeständnis, dass sie etwas nicht wisse. Dass der andere mehr wisse. Der könne dann auf sie herabsehen, sagt sie. Sie müsse immer alles schon wissen. Sie dürfe keine Fehler machen. In Mathe sei sie von der Lehrerin vor der ganzen Klasse beschämt worden. Die Lehrerin habe sie an die Tafel gerufen und habe allen demonstriert, dass sie, Sara, die Aufgabe nicht beherrsche, weil sie gefehlt habe. „Ich musste sagen, ich versteh das nicht.“ Sie sei vor der ganzen Klasse gedemütigt worden. „Alle denken jetzt, ich bin doof.“ Sie ertrage die Vorstellung nicht, dort wieder hin zu gehen. An einen Ort, an dem sie sich so blamiert habe.

Zunächst bin ich wütend über diese Lehrerin, über diese Schule, die ein halbes Jahr Arbeit und Vorbereitung innerhalb von drei Tagen zunichte macht. Über den Vater, der nicht an ihrer Seite stand, der sich hinter der Arbeit versteckte. Diese zwei Sitzungen pro Woche erscheinen mir angesichts der äußeren Widrigkeiten wie ein Tropfen auf den heißen Stein und ich erlebe mich wie Don Quijote auf klapprigem Pferd, der mit einer Lanze in der Hand gegen Windmühlenflügel kämpft. Wie kann ich Sara in diesen wenigen Sitzungen fit machen, frage ich mich, diesen als so demütigend und erniedrigend erlebten Kampf zu bestehen? Mir wird immer klarer, dass ich eine Unterstützung außerhalb der Therapie brauche, und ich verhandele mit dem für Sara zuständigen Sozialarbeiter über ein geeignetes Projekt für sie, in dem sie auf mehr Verständnis im Umgang mit emotional gestörten Kindern, aber auch auf mehr Erfahrung hoffen kann. Gleichzeitig zu den regelmäßigen Sitzungen mit dem Vater, in denen ich mit ihm an seinem Teil der Dynamik arbeite, habe ich sporadische Sitzungen mit der Mutter und mit den Geschwistern, damit die Familie ihre Kräfte koordiniert, damit sie zusammen- und nicht gegeneinander arbeitet. Ich mache ihnen deutlich, dass Sara die Unterstützung aller braucht.

 

Die Mutter

 

Während die Gespräche mit dem Vater regelmäßig neben den Sitzungen mit Sara stattfinden, der Vater mehr und mehr zu einer integrativen Kraft wird, der Sara immer wieder zu mir zurückbringt, wenn sie „wegläuft“, die Auseinandersetzung mit mir angstvoll meidet, erlebe ich die Gespräche mit der Mutter als äußerst schwierig. Ich hatte Sara zu Beginn der Therapie meine Visitenkarte für die Mutter mitgegeben, wollte es ihr überlassen, wann sie die Karte weitergibt, wann sie sich vorstellen kann, dass auch die Mutter in die Therapie einbezogen werden darf, und ich wollte es auch der Mutter überlassen, wann sie zu mir Kontakt aufnehmen möchte, da die Therapieentscheidung vom Vater ausgegangen war. Solange Sara bei dem Vater wohnt, kommt mit der Mutter kein Termin zustande. Erst als Sara vorübergehend in einer WG untergebracht ist, meldet sich die Mutter bei mir. Der Sozialarbeiter habe es ihr geraten, begründet sie ihren Gesprächswunsch auf meinem Anrufbeantworter, so als müsse sie sich dafür entschuldigen. Vor der Praxistür steht pünktlich eine kleine, zierliche Frau, die mich schüchtern anlächelt, mädchenhaft wirkt. Nach meinen einleitenden Worten fängt sie an zu reden, ohne Pausen zu lassen, in denen ich etwas sagen oder antworten könnte. Dabei wirbt sie um mich und hält mich gleichzeitig auf Distanz, außen vor. Zwischen uns entwickelt sich kein Dialog, kein Geben und Nehmen. Es ist für mich so, als müsse sie das Gespräch in der Hand behalten, dirigieren, so als dürfe sie die Kontrolle über das Gespräch nicht abgeben. Sie monologisiert, und ich lasse es geschehen, höre ihr zu, versuche ein wenig irritiert, ob der unterschiedlichen Signale von Unterwürfigkeit und Dominanz, die sie mir anbietet, herauszufinden, was ihr Beziehungs- und Interaktionsangebot mit mir macht, welche Gefühle sie in mir auslöst. Ich spüre hinter ihrem unsicheren Lächeln, hinter dem nicht abreißenden Wortfluss ihre Angst. Einmal weint sie und es lässt mich merkwürdig unberührt. Ich sehe Tränen, aber das entsprechende Gefühl stellt sich nicht ein. Inhaltlich geht es hauptsächlich darum, wie sie die Situation, als Sara von ihr zum Vater zog, erlebt hat, wobei ich rätsele, ob sie nun verletzt ist, weil Sara von ihr weg gegangen ist, oder erleichtert. Atmosphärisch ist es so, als bewegten wir uns auf dünnem Eis. Auch ich bin angespannt und auf der Hut. Sehr, sehr vorsichtig. Sie zeigt mir eine hohe Verletzlichkeit gepaart mit einer Starre und Rigidität, die wie ein Korsett wirkt, mit dem sie ihr Leben bewältigen kann. Ich habe das Gefühl, keine Initiative ergreifen zu dürfen, um ihr labiles Selbstgefüge nicht zu gefährden. Hinter ihrer Angst spüre ich noch etwas anderes, intuitiv, was mich vorsichtig werden lässt, aber ich könnte es nicht in Worte fassen. Ich bin erleichtert, als das Gespräch vorbei ist. Wir verbleiben so, dass sie sich meldet, wenn sie ein weiteres Gespräch möchte.

Das nächste Mal höre ich von ihr auf meinem Anrufbeantworter. Vater und Mutter suchen in der Zeit eine Schule für Sara, und sie fordert mich mit schriller und erregter Stimme auf, ich solle mich aus der Schulfrage gefälligst raushalten. Nach kurzem Zögern beschließe ich, darauf nicht zu antworten. Das nächste Gespräch findet statt, als es um die Frage geht, ob die Eltern als Eltern zusammenfinden könnten mit dem Ziel, eine gemeinsame Betreuungslösung für Sara zu finden, und welchen Part dabei die Mutter übernehmen könnte. Es war von mir als Beginn einer Reihe von Gesprächen gedacht, die zunächst mit ihr alleine, dann auch mit dem Vater und Sara zusammen geführt werden sollten. Sie beginnt das Gespräch damit, ob sie mir einmal eine Frage stellen dürfte, und fängt dann an, mir heftigste Vorwürfe zu machen, warum ich sie nicht bei Therapiebeginn einbestellt hätte. Sie hätte sich bei dem Leiter der örtlichen Beratungsstelle erkundigt und der hätte gesagt, dass man das tun müsste. Sie wird so beleidigend, dass ich einen kurzen und heftigen Impuls verspüre, die Sitzung zu beenden. Es gelingt mir dann aber doch ganz gut, mich soweit zu regulieren, dass ich darüber nachdenken kann, weshalb sie so heftig agieren muss. Hat sie sich wirklich ausgeschlossen gefühlt oder nicht eingeladen und das als eine Schuldzuweisung erlebt? Warum kommt sie damit aber zu einem Zeitpunkt, wo es um einen gemeinsamen Ansatz geht? Sagt sie mir damit indirekt, dass sie eine gemeinsame Lösung nicht mittragen wird? Während ich so über ihre möglichen Beweggründe nachsinne, wird sie plötzlich wieder ganz unterwürfig, weint und fängt an, über Sara zu reden. Sie erzählt mir von den ersten Jahren mit ihr und dass Sara immer schon sehr schüchtern war, nicht zu anderen Kindern gehen wollte, nicht zu den Kindergeburtstagen. Redet sie jetzt, so frage ich mich, über ihre Schüchternheit und ihre Probleme, Kontakt aufzunehmen, ihre Angst vor Zurückweisung? Könnte das ein Grund für ihre späte Kontaktaufnahme zu mir sein, die sie mir jetzt vorwirft?

 

Sie betont, was Sara alles tun müsste und sollte und nicht täte und warum. Inwieweit das die Schuld des Vaters sei, der wäre nämlich auch so, er entzöge sich auch seinen Verpflichtungen, wie Sara. Wenn Sara nicht zur Schule ginge, dann wäre sie dafür, dass sie in ein Heim komme. Sie hätte nicht mehr die Kraft, sich mit ihr auseinander zu setzen. Als die Sitzung zu Ende ist, machen wir beide keinen Versuch, uns erneut zu verabreden. Irgendwie scheinen wir beide die Hoffnung aufgegeben zu haben, dass es zwischen uns zu einem befruchtenden und hilfreichen Austausch kommen könnte. Neben einer gewissen Erleichterung gibt es bei mir ein Gefühl von Gescheitertsein. Die Familie konnte durch den therapeutischen Prozess nicht zusammengeführt werden, die Spaltung innerhalb der Familie, die für Sara so leidvoll ist, wurde nicht überwunden. Seit ihrer Trennung arbeiten die Eltern gegeneinander, geben sich gegenseitig die Schuld an den Problemen ihrer Kinder, und finden die für sie problematischen Seiten des Partners in ihrem Kind wieder und werfen es ihm vor. Wenn man davon ausgeht, dass Sara Anteile der Mutter und des Vaters in sich repräsentiert, kann man sich vorstellen, wie schwierig es für sie ist, innerlich eine Balance zwischen diesen Teilen zu finden. Die Art, wie Saras Mutter in Austausch mit anderen tritt, die Art wie sie Beziehungen reguliert, hat auch Saras Art der Beziehung mit wichtigen anderen geprägt. Gerade das der Mutter Ähnlichsein ist für Sara oft schwer auszuhalten. Ein Teil ihres Selbsthasses bezieht sich auf das Erkennen ähnlicher Verhaltensweisen mit der Mutter. Gerade deshalb wäre eine Integration der Mutter wichtig gewesen und nicht ihr Ausschluss. Aber auch ich als Therapeutin muss oft Grenzen akzeptieren, Grenzen meiner Arbeit, die in mir oder in den äußeren Bedingungen liegen, was auch mir nicht immer leicht fällt. Ich beruhige mich damit, dass Saras Mutter zu regelmäßigen Beratungsgesprächen in die örtliche Beratungsstelle geht, bin aber trotzdem mit der Entwicklung unzufrieden. Das Erleben der Interaktion mit der Mutter hat mir aber wertvolle Hinweise zum Verständnis von Saras Verhaltenweisen gegeben. Ich werde darauf später zurückkommen.

 

Emotionale Gewalttätigkeit

 

Mit Sara arbeite ich in dieser Zeit intensiv an dem Thema, wie in der Familie mit Gefühlen, vor allem mit dem Gefühl der Bedürftigkeit umgegangen wird. Das Gefühl, beschämt zu werden, woher sie das kenne, wann sie das schon einmal erlebt habe. In der Familie herrscht ein gefühlsabwehrender, ironischer Umgangston vor, den sie sich einerseits zu Eigen gemacht hat, dem sie aber als Kleinste vor allem früher nicht gewachsen war. Ihr fallen Situationen ein, in denen sich die Geschwister über sie als die Kleinste lustig gemacht hätten und keiner sie geschützt habe. Der Vater sage immer, sie soll doch sagen, wenn sie Hilfe brauche, er helfe ihr dann. Er werfe ihr sogar vor, sie könne keine Hilfe annehmen. Als sie das erzählt, fällt ihr plötzlich eine Situation ein, da ist sie ungefähr drei. Die Eltern seien weggegangen und sie habe sich mit dem Kopf an der Türklinke gestoßen, sie habe geblutet. Keiner sei da gewesen. Keiner habe ihr geholfen. Sich verletzen, verletzt werden, allein gelassen werden, schutzlos sein, hilflos. Wie unangenehm, wie unerträglich, nicht aushaltbar für ein kleines Kind diese Gefühle sind. Wir wenden uns beide diesem kleinen Kind zu. Wie es sich wohl fühlen muss. Es fallen ihr immer mehr Situationen ein, als sie klein war. Der ältere Bruder habe sie geschlagen, er habe ihr Spielzeug kaputt gemacht, er habe gebrüllt, wenn sie mit seinem Spielzeug gespielt habe. Sie sei zur Mutter gelaufen und habe geweint. Die habe gesagt, ist doch gar nicht schlimm. 

Die Situation, beschämt zu werden, mobilisiert Erinnerungen an Beschämungssituationen, als sie jünger war, hilflos, allein, keiner ihr beigestanden hat. Wir durchleben noch einmal gemeinsam diese Situationen, überlegen uns gemeinsam, was ein Kind in solchen Situationen braucht und reden darüber, wie schlimm es für sie war, dass sie in diesen erinnerten Situationen keine Unterstützung bekommen hat. In diesem Prozess des Mitfühlens, Miterlebens mit der „kleinen“ Sara versuche ich, die „große“ Sara anzuregen, mit sich selber einfühlsamer, verständnisvoller umzugehen. Ich kann dabei auf ihre Erfahrungen im Praktikum zurückgreifen, bei dem sie selber Kinder getröstet hat, wenn sie weinten und Hilfe brauchten. Jetzt geht es darum, dass sie auch mit sich selber diese verständnisvollen Dialoge führen kann, die sie mit den Kindern schon geführt hat. Je mehr Sara einfühlsam mit sich selber umgehen, je erfolgreicher sie sich selber steuern und regulieren kann, desto kompetenter wird sie sich fühlen, desto mehr Selbstbewusstsein wird sie erwerben, und desto unabhängiger kann sie sich von einem guten äußeren Objekt fühlen, weil die gute innere Repräsentanz in Form verständnisvoller innerer Dialoge sie überall hin begleiten kann. 

„Emotionale Gewalttätigkeit“ nennen Bindungsforscher das Verhalten von Eltern, die, wenn ein Kind mit dem Bedürfnis nach Zuwendung und Regulation des alltäglichen Kummers sich vertrauensvoll an sie wendet, aufgrund eigener Defizite nicht einfühlsam genug auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, keine Hilfe, keinen Trost zur Verfügung stellen können, sogar auf den Kummer und die Bedürftigkeit des Kindes mit Zurückweisung und/oder Schlägen reagieren. Diese Erfahrungen mit emotionaler Gewalttätigkeit schaffen beim Kind die innere Überzeugung, dass emotionaler Schmerz ohne die Hilfe anderer bewältigt werden muss.

 

Diese Erfahrungen prädisponieren Individuen dazu, sich von anderen in Zeiten der Bedürftigkeit abzuwenden und verzweifelt in selbstgerichteten Handlungen Trost zu suchen. Selbstverletzendes Verhalten (Ritzen, Haare ausreißen) ist ein Versuch des Selbstmanagements, ein Versuch, mit einem körperlichen Schmerz einen seelischen Schmerz zu bewältigen. Das kleine Kind entwickelt in der Interaktion mit Eltern, die seelischen Schmerz nicht regulieren können, Bewältigungsstrategien, die dazu dienen, das Gefühl schmerzlicher Verletzbarkeit selber zu regulieren. Rückzug in Tagträumerei, übermäßiges Essen, später dann exzessiver, zwanghafter Drogenmissbrauch und Internet- und Spielsucht sind solche unzureichenden Regulationsversuche. Bindungsforscher sprechen von der Mentalisierungsfähigkeit der Eltern. Sie verstehen darunter die Fähigkeit der Eltern, sich in die vermuteten seelischen Zustände des Kindes hinein zu versetzen und diese Einfühlung in die körperliche Handreichung zu übersetzen, die das Kind versteht. Diese Handreichung, die Regulation innerer Zustände durch die Eltern, wird durch das wiederholte Erleben verinnerlicht und dadurch Teil des eigenen Umgangs mit sich selbst, Teil der Selbstregulation. Jugendliche, die sich selbst verletzen, haben in der Interaktion mit ihren Eltern nur unzureichend hilfreiche und tröstende Regulationen verinnerlichen können und greifen in Situationen, in denen emotionale Katastrophen drohen, auf die Strategien zurück, die ihnen zugänglich sind. Das Verhalten, das von Außenstehenden als gewalttätig empfunden wird, erlebt der Jugendliche als problemlösend, oft auch als entspannend (Ritzen, Kiffen), als eine Möglichkeit mit einem unerträglichen Zustand des Selbst umzugehen oder ihm vorzubeugen. Jugendliche, die sich selbst verletzen, haben „gelernt“, auf Techniken der Selbststeuerung zurückzugreifen, anstatt bei der Bewältigung ihrer Gefühle Hilfe von anderen zu erwarten. Sie müssen davon ausgehen, dass nicht nur die diese Regulationsversuche auslösenden Gefühle der Bedürftigkeit und Kleinheit von anderen missbilligt werden, sondern auch die Versuche, sie zu regulieren von Außenstehenden nicht verstanden oder sogar abgelehnt werden. Auch sie erleben diese Versuche des Selbstmanagement im Nachhinein als unzureichend und beschämend, und es fällt ihnen schwer, sich damit anderen anzuvertrauen. Ein Teufelskreis, der auch und gerade in der Therapie schmerzlich zutage tritt, wenn das Muster, keine Hilfe erwarten zu können, auf die Therapeutin übertragen wird.   

 

Zwickmühlen

 

Sara geht zunächst in ein Projekt für schuldistanzierte Jugendliche und fühlt sich dort sofort aufgehoben und wohl. Sie ist in den meisten Fächern die Beste und die Betreuer loben sie. „Ich sporne die anderen an“, berichtet sie mir stolz. „Im Projekt richtet sich der Unterricht nach uns. Hier ist die Gemeinschaft wichtig, das Sich-gegenseitig- Helfen. In der Schule geht es darum, wer der Tollste ist. Jeder zeigt, was er kann, was er hat. Ob die Schüler sich verstehen, ist den Lehrern doch egal. Es geht nur um Leistung. Beim Projekt sind die Jungen und Mädchen so wie ich, sie haben ähnliche Probleme wie ich. Im Projekt werden wir unterstützt, wenn wir etwas nicht können. Die Betreuer helfen uns, sind für uns da, wenn uns mal was nicht gelingt. Es gibt nicht noch eins drauf, wenn man was nicht schafft. In der Schule soll man doch nur an sich denken, dass man weiter kommt, dass man der Beste ist.“  

Sie macht ein Praktikum in einem „angesagten“ Musikladen, das sie sich selber ausgesucht hat und das ihr sehr viel Spaß macht. Sie ist begeistert und wird von den Mitarbeitern als kompetent und einfallsreich beschrieben, eigenständig und zuverlässig, bis es zu einem Konflikt mit einer Mitschülerin kommt, woraufhin sie sich weigert, weiter dorthin zu gehen.

 

Die Mitschülerin hatte sich in das Praktikum gedrängt und Sara wiederholt mit ihr dramatisch ihren Konflikt um Rivalität und Selbstbehauptung. Zunächst spricht sie über ihre Wut, dass sich die andere da einfach reingedrängt habe. Sie könne ihr das aber nicht sagen. Sie wolle mit ihr nichts mehr zu tun haben und gehe deshalb da nicht mehr hin. Basta. Das klingt wild entschlossen, und ich erlebe sie als unzugänglich, abgeschottet gegen mich, gepanzert. Sie macht mir deutlich, dass es da nichts zu verhandeln gibt, dass ich das zu akzeptieren habe. In mir macht sich ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit breit, ich fühle mich blockiert, aber auch wütend, und mein erster Impuls ist, gegen ihre Sturheit anzukämpfen, um aus der passiven wieder in eine aktive Position zu kommen. Anstatt diesem Impuls nachzugeben, fange ich an, über die Art, wie wir gerade miteinander umgehen, nachzudenken, überlege, ob sie gerade etwas mit mir wiederholt, was sie selber oft erlebt hat, und frage sie deshalb: „Kann es sein, dass Du da in einer fürchterlichen Zwickmühle bist?“ Ihr kommen die Tränen und sie nickt. Sie fühlt sich wohl von mir in ihrem inneren Konflikt gesehen, hat dadurch nicht mehr das Gefühl, sich gegen mich und meine Interventionen, gegen mögliche Kritik und Erwartungen schützen zu müssen, und das starre Gegeneinander löst sich auf.

 

Sie beschreibt mir jetzt ihren inneren Konflikt zwischen teilen müssen, dafür gelobt werden, und nicht teilen wollen, etwas für sich haben wollen. Etwas für sich allein haben wollen sei egoistisch und egoistisch „darf man“ nicht sein. Sie sei ganz schrecklich wütend auf die Mitschülerin, weil diese sie in solche Bedrängnis gebracht habe, und diese Wut blockiere sie. Sie habe Angst, wenn sie sage, was sie wolle, ständen alle gegen sie, vor allem ihre Lieblingsbetreuerin. Die Mutter habe nie zu ihr gehalten, fällt ihr dazu ein. Sie habe sie auch nicht unterstützt, wenn sie etwas nicht konnte, sondern es ihr vorgeworfen. Auch sie selber sei sauer auf sich, weil sie sich von der Mitschülerin so habe rausdrängen lassen, sich nicht gegen sie durchsetzen konnte. Nicht abgegrenzt, sagt sie mit leicht ironischem Unterton. „Abgrenzen“ ist mein „Lieblingswort“, so Sara, „meine Norm“. Ihre Interessen gegen die Interessen einer anderen durchzusetzen, falle ihr immer noch schwer. Als Kind habe sie sich gegen die Mutter nicht behaupten können. Die Mutter habe das, was sie, die Mutter, wollte, als richtig, das, was sie, Sara, wollte, als falsch hingestellt. Wie es ihr dann gehe? „Ich zweifle an meiner Meinung, zweifle an meinen Gefühlen. Ich bin verwirrt und fühle mich hilflos und ohnmächtig. Hat sie Recht oder hab ich Recht? Am Ende weiß ich nicht, was ich will. Ich hab das Gefühl, du hast was Falsches gesagt, du hast die falsche Meinung. Du bist falsch. Ich ziehe mich zurück und werde trotzig und stur, um bei meiner Meinung bleiben zu können. Meine Mutter muss immer Recht behalten, sie würde nie sagen, da hab ich was falsch gemacht. Wenn es einen Streit gibt, bin immer ich Schuld. Früher konnte ich mich nicht dagegen wehren. Jetzt brülle ich sie an. Bei meiner Mutter kann ich das mittlerweile, aber bei anderen traue ich mich das nicht.“

 

Hier beschreibt sie ihre Verwirrung, die das übergriffige und starre Verhalten der Mutter, die Zuschreibungen der Mutter in ihr auslösen und welche Mechanismen sie gebraucht, um sich davor zu schützen – nämlich  Rückzug. Es gibt eine tiefe Unsicherheit in ihr, wer bei einem Interessenkonflikt Recht hat, wem sie trauen kann. Sie kann sich bei dieser Entscheidung nicht auf ihre Gefühle verlassen, weil ihr ihre Gefühle von klein auf als falsch dargestellt wurden. Sara hat früh gelernt, sich auf den Zustand des anderen einzustellen und diesen Zustand zur Richtschnur für ihr Handeln zu machen, hat dabei nicht gelernt, auf den eigenen inneren Zustand zu achten, und diesen als Kompass zu nutzen. In der Konfliktsituation mit der Mitschülerin bricht der Bewältigungsmechanismus, die Erwartungen wichtiger anderer herauszufinden und danach zu handeln, zusammen, weil es jetzt verwirrend viele Beteiligte mit unterschiedlichen Wünschen und Erwartungen gibt. Zunächst sind da die Erwartung der Mitschülerin, im Praktikum von ihr wohlwollend aufgenommen und unterstützt zu werden, und die Erwartung der Betreuerin: Sie, Sara, solle das eher verwahrloste Mädchen motivieren und stützen, bei der Stange halten. Dann die Erwartungen der Mitarbeiter: Sara hatte sich in dem Praktikum eine ausgesprochen gute Beziehung zu den ein wenig älteren, zum Teil „flippigen“ männlichen Mitarbeitern aufbauen können, die begeistert von ihr waren, von ihrer Lernfähigkeit, ihrer raschen Auffassungsgabe, ihrer Zuverlässigkeit. Zum einen wollte sie diese Beziehung nicht gefährden, wollte nicht erleben, dass ein Eindringling durch sein bloßes Auftauchen ihr alle Sympathien wegnimmt, die sie sich mühsam durch Leistung erworben hat, was anzeigt, wie brüchig ihr Selbstbewusstsein ist, wie angewiesen auf fortdauernde Bestätigung. Sie hatte aber auch Angst, zwischen die Fronten zu geraten, zwischen die Erwartung der Mitschülerin, die sie als frech und aufmüpfig beschreibt, mit ihr zusammen Unsinn zu machen, zu schwänzen, sich daneben zu benehmen, und der Erwartung der Mitarbeiter, weiterhin zuverlässig zu sein.

 

Sie könnten sauer auf mich sein

 

Und dann gab es noch meine Erwartung, dass sie sich aus dem Praktikum nicht rausdrängen lässt, dass sie ihre Position behauptet, sich abgrenzt, das in den Sitzungen Erarbeitete umsetzt, nicht klein beigibt. Da sie das Gefühl hat, nur gemocht zu werden, wenn sie die Erwartungen anderer erfüllt, hat sie nun ein Problem, da es widersprüchliche Erwartungen gibt. Eine Art Zwickmühle: Egal, was sie macht, sie muss jemanden enttäuschen. Jemanden enttäuschen, der ihr dann Vorwürfe macht, der sie dann niedermacht, der sie mit seinen Zuschreibungen verwirrt („Du bist so egoistisch wie deine Mutter.“ „Du bist so unzuverlässig wie dein Vater.“). Da auch ich an diesem Wirrwarr beteiligt bin, frage ich sie, nachdem sie den Konflikt mit der Mutter beschrieben hat, wie es ihr denn mit mir gehe, wenn sie etwas anderes wolle als ich. Ob sie auch bei mir das Gefühl habe, bestimmt zu werden, beeinflusst, keine Chance gegen mich zu haben? „Vielleicht ein wenig“, sagt sie und lacht verlegen, um gleich abzuschwächen: „Vielleicht befürchte ich es nur, vielleicht ist es ja anders.“ Was könnte denn anders sein? „Sie hören mir erst mal zu, versuchen, mich zu verstehen, auch wenn Sie eine andere Meinung haben. Trotzdem ist es für mich schwer, bei meiner Meinung zu bleiben, wenn ich denke, Sie erwarten etwas anderes von mir.“ Was dann wäre? „Sie könnten enttäuscht von mir sein. Das wäre nicht so gut. Oder Sie könnten sauer auf mich sein und dann nicht mehr für mich da, nicht mehr auf meiner Seite, gegen mich.“

Dies ist eine der wenigen Situationen, in der sie relativ offen über ihre Befürchtungen in der Beziehung zu mir sprechen kann, eine Situation, in der sie erlebt, wie sie die Beziehungsmuster, die sie mit der Mutter und dem Vater ausgebildet hat, auf mich überträgt. Sie vermutet einerseits, dass ich anders reagieren könnte, instinktiv weicht sie aber einer Auseinandersetzung mit mir aus, weil sie befürchtet, darin – wie bei der Mutter - den Kürzeren zu ziehen, von mir für ihr Scheitern kritisiert und niedergemacht zu werden. Sie spricht ihre Angst aus, dass ich von ihr enttäuscht sein könnte, wie der Vater von ihr enttäuscht ist, der sich dann resigniert zurückzieht und ihr nicht zur Seite steht, der ihr in Situationen, in denen es ihr schlecht geht, keinen Halt geben kann, sich hilflos und verstrickt fühlt, selber keinen Ausweg weiß.(„Was soll ich denn machen, wenn sie nicht zur Schule geht, ich kann da doch nichts machen“, sagt er einmal zu mir, wie ein ganz kleiner Junge.) Aber sie ist auch selber von sich enttäuscht, erlebt sich selber als an ihren Ansprüchen gescheitert und befürchtet nun, dass ich sie in diesem Zustand nicht halten, nicht aushalten kann. Der Vater habe einmal zu ihr gesagt, Therapeuten hätten eine lange Ausbildung, damit sie den Schmerz anderer Menschen aushalten könnten, sagt sie zu mir. Trotzdem wolle sie mich nicht mit ihren Problemen belasten, habe Angst, ich könne dann nachts nicht schlafen(und sie deswegen als unerträglich ablehnen, ergänze ich innerlich für mich).

 

Aber ich denke, die Angst vor meiner Enttäuschung, vor meiner fehlenden Belastbarkeit – auch ich habe ja viele Patientenkinder -  ist nur die eine Seite. Es gibt auch eine Enttäuschung an mir. Ich vermute, sie ist enttäuscht, dass sie weiterhin diesen erniedrigenden Situationen ausgesetzt ist. Sie kommt nun schon seit über einem Jahr zu mir und muss immer noch mit dem Leben kämpfen. Ich habe sie nicht unverletzbar gemacht, habe ihr die Schwierigkeiten nicht aus dem Weg geräumt. Ich unterstütze sie und ermutige sie. Doch sie muss das in der Therapiesitzung Besprochene alleine umsetzen und manchmal gelingt das nicht. Ein schmerzlicher Prozess.

 

Einen weiteren Aspekt therapeutischer Arbeit kann man in dieser Sequenz gut beobachten, nämlich die Umkehrung der Opfer-Täter-Position, und die Lernprozesse, die mit der Bewältigung einhergehen: Sie bringt mich mit ihrem sturen, unzugänglichen und trotzigen Verhalten oft in eine ohnmächtige, hilflose Position, eine Position, in der sie sich selber gegenüber ihrer Mutter/gegenüber ihrem Vater als Kind befunden hat, und sie erlebt jetzt meine Manöver, mich daraus mal mehr oder weniger geglückt zu befreien, wodurch sie andere Formen der Bewältigung von Ohnmachtsituationen erlebt.

Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Art, wie sie diese Konfliktsituation bewältigt hat, ist ihre fehlende Fähigkeit zur konstruktiven Auseinandersetzung. Erinnern wir uns an die Art, wie die Mutter in der Auseinandersetzung mit mir zwischen Unterwürfigkeit und verletzendem Angriff hin- und herschwankte. Es hat den Anschein, als ob in einem Interessenkonflikt nur der eine oder der andere siegen könne, so als ob es keine Kompromisse, keinen Ausgleich geben könne. Entweder- oder, oben oder unten. Jede Form der Selbstbehauptung erscheint auf dieser Folie als ein Angriff auf die Integrität des anderen. Ein Nebeneinander unterschiedlicher Interessen, das Aushalten von Differenzen erscheint als nicht möglich. Ihre Weigerung oder ihre Unfähigkeit, meinen Erwartungen zu entsprechen, würde mich – so die Annahme - so verletzen und/oder so verärgern, dass es zu einem Bruch unserer Beziehung kommt. „Sie könnten sauer sein und dann gegen mich.“ Und wenn das so ist, ist es dann nicht besser, sie bricht die Beziehung ab, anstatt zu erleben, wie ich es tue. Wobei abbrechen ja auf einer Bandbreite von enttäuscht abwenden, nicht mehr zur Verfügung stehen, nicht mehr wohlwollend sein, bis hin zu aggressiven Angriffen geht.

Säuglingsforscher gehen bei der Frage der Aggressionsentwicklung von zwei unterschiedlichen Motivationssystemen aus: das assertive, selbstbehauptende System, ein angeborenes System, das mit Neugier und Exploration verbunden ist, und das aversive Motivationssystem, das aktiviert wird, wenn Gefahr droht, und das zu Angriff oder Rückzug führt, je nachdem wie die Kräfteverhältnisse eingeschätzt werden. Wenn ein Kleinkind in der Interaktion erlebt, dass es seine selbstbehauptenden, explorativen Impulse unterdrücken muss, weil sie mit Rückzug und/oder Ärger der Bezugsperson beantwortet werden, wird es zusammen mit den Impulsen diese Antwort  als ein Schema des Zusammenseins in sich repräsentieren und als automatisiertes Reaktionsschema in ähnlichen Situationen abrufen.

Saras Vorstellung, wie selbständig sie bei mir sein darf, ist also mit unterschiedlich bewussten Erlebnisebenen belegt, wobei die wirkmächtigste und zugleich unzugänglichste eben diese vorsprachliche, in vielen Interaktionsepisoden gemachte Erfahrung ist, dass das Ausleben von „Eigensinn“ zu einer feindseligen Reaktion führen wird. Was sie nun auch in der Interaktion mit mir befürchtet, weshalb sie diese Impulse im Zusammensein mit mir unterdrückt und nur außerhalb der Beziehung, im Rückzug ausleben kann, womit sie verhindert, dass ich sie angreife, aber auch dass sie mich angreift/verletzt/verärgert. Da sie mich in Situationen, in denen sie Differenzen zwischen uns vermutet, aus Angst vor meiner Feindseligkeit/Unzufriedenheit meiden muss, kann sie zunächst wenig emotional korrigierende Erfahrung mit mir machen – nämlich dass ich mich vielleicht anders verhalte als ihre frühkindlichen Bezugspersonen. Im Laufe der Therapie wirkte jedoch Saras Vater in Situationen, in denen Sara vor der Auseinandersetzung mit mir weglief, immer mehr als integrative, vermittelnde Kraft. Er kam mit ihr „im Schlepptau“ zu seinen Sitzungen und stellte sie ihr zur Verfügung. So konnte sie sich in seinem Schutz erneut annähern, mit mir immer wieder die Erfahrung von Entfernen und Annähern, von Bruch und Reparatur der Beziehung machen.

In einer der nächsten Sitzungen kommen wir noch einmal auf die Konfliktsituation mit der Mitschülerin zurück und arbeiten zunächst an ihrer Angst, die Mitschülerin würde von den Betreuern mehr gemocht, die Betreuer würden zu ihr halten, den Standpunkt der Mitschülerin vertreten, sie, Sara, als gemein darstellen. Alle wären gegen sie und sie stünde ganz allein da. An dieser Konstellation gelingt es uns im Verlauf der folgenden Sitzungen ganz gut, das schwierige Verhältnis zu den Halbgeschwistern zu bearbeiten. Der Vater hatte inzwischen die Lebensgefährtin geheiratet und ein Haus im Berliner Umland gekauft. Sara weigerte sich mitzuziehen und die Situation spitzte sich zu. Es wurde immer deutlicher, dass sie aus verschiedenen Gründen nicht mit dem Vater mitziehen konnte. Zunächst sagt sie, sie will, dass der Vater ein schlechtes Gewissen hat. Er soll denken, ich lasse sie jetzt allein zurück. Was bin ich doch für ein schlechter Vater. Außerdem sei sie sauer, weil die Freundin sich durchgesetzt habe. Sie habe zu ihren Kindern gehalten. Sie wäre nicht zum Vater gezogen. Sie wollte, dass ihre Kinder in der Nähe ihres Vaters wohnen bleiben. Der Vater habe sich für die Freundin entschieden und nicht für sie. Warum? Er denkt, das ist eine Familie, ein Nest. Was sie sich von ihm wünscht? frage ich sie. Sie wünscht sich, dass er für sie da ist, dass er sich um sie kümmert, dass sie wichtig für ihn ist. „Ich wünsche“, sagt sie, „dass er zu mir steht. Aber ich kann ihm das nicht sagen. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihn brauche.“ Es wäre so etwas wie ein Triumph für ihn, eine Niederlage für sie. Sie kann ihm aber auch nicht zeigen, wenn sie traurig ist. Sie will ihn nicht belasten. Sie will ihm zeigen, dass sie auch ohne ihn klar kommt, auf ihn nicht angewiesen ist.

Hier zeigt sie noch einmal eindrücklich ihren Autonomiekonflikt, ihre Ambivalenz in Bezug auf den Vater, ihr Schwanken zwischen alleine klar kommen wollen und der Angst vor dem Scheitern, ihr Wunsch nach Zuwendung und ihre Angst vor Zurückweisung, die Demonstration ihrer Verlassenheit als Instrument, um dem Vater ein schlechtes Gewissen zu machen, zugleich aber die Angst, ihn zu belasten. Sie berichtet über dieses Gefühl, das sie hat, dieses „Entweder Oder“. Diese Frau oder ich. Macht oder Ohnmacht. Sie beschreibt in einer der nächsten Sitzungen, wie schwer es ihr fällt, jemanden einen Gefallen abzuschlagen. Sie wolle großzügig sein und nicht so egoistisch wie ihre Mutter. Sie habe unter dem Egoismus der Mutter immer so gelitten und dürfe deshalb nicht egoistisch sein. Sie habe sich die Eltern immer großzügig gewünscht. Deshalb konnte sie zu der Mitschülerin nicht sagen, ich will das nicht, dass du kommst. Außerdem könnten die anderen nicht verstehen, dass sie das Praktikum für sich haben wollte. Die könnten das verurteilen. Sie sei immer für ihr soziales Engagement gelobt worden.

In der nächsten Sitzung kommen wir noch einmal auf die neue Familie des Vaters zu sprechen. Jetzt spricht sie über ihre Angst, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Zu sehen, dass die Kinder etwas bekommen, was sie selber so schmerzlich vermisst hat. Die Angst, zu dieser Familie nicht dazu zu gehören, fremd zu sein. Die Kinder hatten es gut, die hatten immer eine verständnisvolle Mutter, die haben deshalb keine Probleme, die sind privilegiert. Die beiden Halbschwestern sollen wohl schlank und schön und gut in der Schule sein. Es ist das Gefühl, wieder allein zu stehen, dass sie als Kind so schmerzhaft erlebt hat und vor dem sie sich fürchtet. Das Gefühl, die leiblichen Kinder werden vorgezogen, sie ist der Bastard.

Sie hat in diesen Sitzungen guten Zugang zu ihren Gefühlen von Neid, Missgunst, Verzweiflung, Scham, Wut. Sie kann diese - negativ besetzten -  Gefühle wahrnehmen, erleben und zeigen und ansatzweise als zu ihr gehörig akzeptieren. Sie kann gut zwischen dem Hier und Jetzt und den Kindheitserinnerungen hin und her wandern, spürt den Zusammenhang zwischen Kindheitserlebnissen und ihrer Haltung „zum Leben“, spürt, wie die Erlebnisse ihre Verhaltensweisen, ihre Erwartungen, ihre Überzeugungen beeinflussen, wie sie dadurch beschränkt und behindert wird, sich oft ohnmächtiger fühlt als sie vielleicht heute ist. Die kleine und die große Sara. Was kann die große Sara, was der kleinen noch nicht möglich war. Welche neuen Möglichkeiten stehen der großen Sara offen?

 

 

Happy End?

Nachdem Sara eine zeitlang versucht hat, allein zu leben, zieht sie zum Vater, teilt sich mit der sechs Monate jüngeren Halbschwester das Zimmer und geht wieder zur Schule, eine kleine, überschaubare Dorfschule mit einer engagierten Lehrerin, kurzen Wegen, schnellem feed back. Sie hat, entgegen ihrer Befürchtung, in der neuen Familie doch den Raum gefunden, den sie brauchte, um ihren Weg zu gehen. Vielleicht hat ihr auch der therapeutische Prozess, auf den sie sich zeitweise intensiv eingelassen hat, neue Bewältigungsmechanismen an die Hand gegeben, so dass ein Ineinandergreifen von neuen inneren Möglichkeiten und wohlwollender, Schutz und Halt gebender äußerer Umgebung entstanden ist. Vor allem dem Vater ist es gelungen, in den begleitenden Gesprächen zentrale Themen zu bearbeiten, so dass er seine die Tochter überfrachtenden und verwirrenden Phantasien aufgeben konnte und sie dadurch entlastet hat. Er konnte das Kind in ihr zu sehen, ihre kindlich-jugendlichen Konflikte wahrnehmen, was bei Sara dazu führte, dass sie sich akzeptiert und verstanden fühlte, nicht mehr so heftig agieren musste. Auch die neue Partnerschaft des Vaters mag dazu beigetragen haben, dass er die Generationsgrenzen besser einhalten und aus der Vaterposition mit Sara interagieren konnte.

 

Regina Konrad Deidesheimer Str. 1 A 14197 Berlin

 

 

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