Im Land der Abenteuer
Du liegst ruhig und entspannt auf deiner weiten Wiese, da hörst du plötzlich so etwas wie ein helles Singen und Glockenläuten in der Luft. Und wie du aufstehst und umherschaust, siehst du einen glänzenden Lichterbogen ein Stückchen von dir entfernt vor dem Wald über der Wiese schweben.
Du stehst auf und gehst hin. Ja, von dorther kommt auch das Singen, und du schaust dir den Lichterbogen genau an. Einmal, herum läufst du um ihn, und dauernd ändert er seine Farbe, so dass er aus jeder Richtung anders aussieht. Und schließlich trittst du durch den Bogen hindurch.
Die Wiese und der lichte Wald sind verschwunden, du stehst auf einer kleinen Lichtung. Wie ein Dschungel umgibt dich nun das Grün, riesige Urweltbäume ragen mächtig hinein in den Himmel. Durch ihre Äste hindurch kannst du einen gewaltigen Berg sehen, dessen Gipfel weiß von Schnee glänzt. Überall wächst Efeu und undurchdringliches Dickicht. Orchideen blühen geheimnisvoll und verbreiten einen wunderbaren Duft. Ein Lärm ist das hier, denkst du und hältst dir unwillkürlich die Ohren zu. Ja, überall um dich herum pfeifen, trillern und kreischen unzählige Vögel. Und auch winzige Kolibris mit unglaublich schnellem Flügelschlag kannst du sehen, wie sie in den Orchideenkelchen nach Nektar suchen.
«Dies ist das Land der Abenteuer», krächzt dir ein uralter Papagei zu, der dich von seinem Platz im Geäst eines mächtigen Urwaldbaumes schweigend betrachtet hat. «Siehst du den Stab, der an meinen Baum gelehnt ist?» fragt er dann.
«Ja», antwortest du.
«Das ist ein Zauberstab. Du kannst ihn verwandeln, in was immer du willst. In ein Messer, eine Flasche Sprudel, ein Seil, ein Feuerzeug. Aber es darf immer nur eine Sache auf einmal sein. »
«Gut», meinst du und nimmst den Stab.
Dann gehst du auf Entdeckungsreise. Zuerst verwandelst du den Stab in ein Buschmesser, um durch den dichten Dschungel zu kommen. Meter um Meter kämpfst du dich durchs Dickicht voran. Plötzlich stolperst du über einen dicken Ast auf dem Boden. Aber der Ast wird lebendig, und du merkst, dass es eine Riesenschlange ist, die sich nun wütend auf dich stürzen will.
«O weh ‑ jetzt schnell eine Idee! » murmelst du vor dich hin.
« O weh ‑ jetzt schnell eine Idee! »
und dann hast du eine Idee, was du wegen der Riesenschlange machen kannst und du tust es.
Nachdem du mit der Riesenschlange fertig geworden bist, gehst du weiter durch den Dschungel. So dicht ist das Gestrüpp, dass du kaum etwas sehen kannst. Da gibt es plötzlich ein lautes Gequietsche ‑ und ein Wildschwein mit kräftigen Stoßzähnen, dem du auf den Rüssel getreten bist, funkelt dich böse an. Du entschuldigst dich stotternd, aber das Wildschwein hört gar nicht zu, sondern senkt den Kopf und nimmt Anlauf, um dich umzurennen.
«O weh ‑ jetzt schnell eine Idee! » murmelst du wieder vor dich hin.
«O weh – jetzt schnell eine Idee!»
Und du hast eine Idee, wie du mit dem Wildschwein fertig werden kannst und du tust es.
Weiter geht es dann durch den Dschungel. Jetzt ist kaum mehr Dickicht, die Bäume stehen auch weiter auseinander, so dass du das Buschmesser gar nicht mehr brauchst und in einen Spazierstock verwandelst. Fröhlich singend wanderst du weiter, den mächtigen Berg hinauf. Du merkst gar nicht, wie die Vögel plötzlich Alarmrufe ausstoßen und immer mehr Tiere in Panik an dir vorüberflüchten. Aber dann siehst du, dass dich ein riesiges Ameisenheer in die Zange genommen hat, Millionen und Abermillionen von Wanderameisen, die alles auffressen, was ihnen auf ihren Raubzügen begegnet. Vor dir, links und rechts von dir, da sind sie schon. Du willst zurück rennen, aber da schließen sich die beiden Flügel des Heeres auch hinter dir und du bist ganz eingekreist.
«O weh ‑ jetzt schnell eine Idee!» murmelst du vor dich hin.
«O weh ‑ jetzt schnell eine Idee!»
Und dann fällt dir ein, was du tun kannst, um den Ameisen zu entkommen und du tust es.
Und weiter gehst du, den Berg hinauf. Die Bäume werden immer weniger, die Felsen mehr, bald wanderst du nur noch über nackten Stein. Da plötzlich hörst du über dir ein Federsausen, mächtige Krallen packen dich an den Kleidern, und ein riesiger Raubvogel, größer als der größte Adler, trägt dich durch die Luft immer höher den Berg hinauf. Kleiner und kleiner wird der Dschungel unter dir hören kannst du ihn schon lange nicht mehr, nur das Sausen der Luft um deine Ohren. Krampfhaft hältst du den Stock fest, aber anfangen kannst du gerade nichts mit ihm. Endlich ist die luftige Reise zu Ende. Ein gewaltiges Nest zwischen mächtigen Felsen ist euer Ziel. Der Vogel wirft dich hinein, mitten unter seine Jungen, so dass du einen Purzelbaum machst. Die Jungen sind genauso verdutzt wie du. So etwas haben ihnen die Eltern wohl noch nie ins Nest gelegt. Zwar krächzen sie dich nicht gerade sehr freundlich an, aber sie tun dir auch nichts.
Wie aber nun weiter? Das Nest ist direkt in eine winzige Felsnische gebaut, überall nur Felswände, über die du nicht klettern kannst. Aber wenn du nichts tust, dann musst du ewig hier bleiben oder die Vögel stoßen dich doch noch in den Abgrund.
«O weh ‑ jetzt schnell eine Idee! » murmelst du.
«O weh ‑ jetzt schnell eine Idee!»
Und dann hast du plötzlich eine Idee, was du tun kannst, um hier wieder fort zu kommen. Und du tust es.
Den Vögeln und dem Abgrund bist du entkommen, und wie du noch ein Stückchen weiter wanderst, da hörst du wieder das Klingen und Singen in der Luft und siehst schließlich vor dir den Lichterbogen schimmern. Halb freut es dich, halb tut es dir leid, dass dein Abenteuer damit zu Ende ist. Du trittst durch den Lichterbogen und bist wieder auf deiner Wiese und in deiner eigenen Welt. Du schaust dich um, und der Lichterbogen ist noch immer da, er blinkt in allen Farben, als wenn er noch etwas von dir haben wollte. Da lachst du und wirfst den Zauberstock hindurch, den brauchst du hier nicht. Und langsam gehst du dann über deine Wiese wieder nach Hause.
Aus: Friedrich, S.; Friebel, V.: Entspannung für Kinder. Rowohlt. Hamburg 1993