Regina Konrad, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche

 

 

Kümmert Euch – Mischt Euch nicht ein!

 

Autonomiekonflikte in der Adoleszenz

 

Kümmert Euch - mischt Euch nicht ein!  Jugendliche senden oftmals widersprüchliche Signale an ihre Umgebung, Signale, die ihre widersprüchlichen Gefühle, Bedürfnisse und Befindlichkeiten ausdrücken, ihre innere Zerrissenheit, ihr Schwanken zwischen groß, erwachsen und selbständig sein wollen in dem einen Moment und dann wieder sich klein, ohnmächtig und hilflos fühlen, angewiesen auf die Unterstützung „der Großen“, die sie im nächsten Moment brüsk zurückweisen, empört über soviel Einmischung. Die hinter diesem lärmenden Verhalten liegenden Ablösungskonflikte möchte ich anhand von zwei Fallbeispielen aus meiner psychotherapeutischen Praxis näher beleuchten, wobei ich zeigen werde, wie unterschiedlich sich die Autonomiekonflikte von Jugendlichen darstellen können, und wie sich in diesen Konflikten die Konflikte, Haltungen und Erwartungen der Eltern spiegeln, d.h. wie die Autonomiekonflikte der Jugendlichen das spezifische Umfeld reflektieren.

Die Adoleszenz ist eine Entwicklungsperiode, in der die Jugendlichen - zum einen bedingt durch die rasante körperliche Entwicklung, zum anderen durch die gesellschaftlichen Anforderungen -  vielfältige Aufgaben lösen müssen. Abschied von der Kindheit heißt Abschiednehmen von gewohnten Erlebnis- und Verhaltensmustern. Das kritische Hinterfragen der Werte und Normen der Erwachsenen, zu denen man bis dahin aufgeblickt hat, und die schrittweise Übernahme von Verantwortung sind nur einige Stichworte, die den Hintergrund umreißen sollen, auf dem ich meine Fallbeispiele darstellen möchte. Bedeutungsvoll ist vor allem die körperliche Veränderung, die einher geht mit einem neuen Körperempfinden und damit einem neuen Selbstempfinden, einem neuen Verhältnis zum eigenen und zum anderen Geschlecht. Die Familie als Schutzburg muss verlassen werden, Neuland betreten, erste Liebesverhältnisse gewagt werden. Die größere körperliche Kraft führt dazu, dass vor allem männliche Jugendliche andere Verarbeitungsmechanismen für ihre aggressiven und destruktiven Impulse finden müssen. Aber nicht nur die Hormone spielen verrückt, auch das Gehirn macht eine Phase überraschend komplexer, unentbehrlicher Veränderungen durch. (Strauch 2003, 10) 

Angesichts heftiger Impulse, Wünsche und Bedürfnisse ist das Ich oftmals in seinen regulativen und in seinen Steuerungsfunktionen überfordert. In diesem Kampf um Selbstkontrolle schwanken Jugendliche oft zwischen Askese und Durchbruch, zwischen emotionaler Abhängigkeit und Unabhängigkeit, zwischen Regression und Progression. Haben sie in dem einen Augenblick das Gefühl Herr ihrer Gedanken und ihrer Gefühle zu sein, fühlen sich in dem nächsten Moment auf demütigende Weise fremdbestimmt und beherrscht. (Bürgin 1999, 128f) Eine Phase derartiger Umgestaltungen geht mit einer großen Verletzlichkeit einher. Francoise Dolto schuf für diesen Prozess das schöne Bild des Hummers, der seinen Panzer wechselt, dabei zunächst den alten Panzer verliert und ungeschützt den Angriffen von innen und außen ausgeliefert ist, bis ihm ein neuer Panzer gewachsen ist. (Dolto 1991, 15) Je schlechter ausgestattet, je  weniger ausbalanciert Jugendliche in die­ Stromschnellen dieses Lebensabschnittes geraten, desto größer ist die Gefahr des Kenterns, die Gefahr der Dekompensation, der vielfältigen Symptombildungen.  

Und damit zu meinem ersten Fallbeispiel:

Eine Mutter sitzt mit einer Mischung aus Verzweiflung, Wut, Trauer und vielleicht auch einer Prise Vorwurf in meiner Praxis. Ihr 19jähriger Sohn habe zum wiederholten Male seinen  Wiedereinstieg in die 11.Klasse „vergeigt“, seine allerletzte Chance vertan. Ich bin betroffen, auch ein wenig verwirrt, weil ich die Situation bisher von Leon nicht so dramatisch geschildert bekam. Hoffnungsfroh hatte er diese Klasse begonnen, voller Elan, der Mutter verboten, weiterhin zu den Sitzungen zu mir zu kommen. „Ich mache das!“ Auch ich hatte ihr geraten, dem jungen Mann das Arbeiten für die Schule zu überlassen. Bis zu seinem 18. Lebensjahr hatte sie mit ihm nachmittagelang über den Schularbeiten gesessen, es oft am Ende für ihn gemacht, damit es fertig wurde. Eine Quälerei - so schien es - für beide Parteien. Mit wenig Erfolg. Immer wieder ist die Mutter zur Schule gegangen, hat mit den Lehrern geredet, das Schlimmste abgewendet. „Wenn ich nicht eingreife, dann kommt es zu Katastrophen“, sagt sie zu mir. Die Entwicklung scheint ihr Recht zu geben. Nichts, aber auch nichts, fährt sie fort, habe er als Kind allein gelernt. Sogar zum Fahrradfahren habe sie ihn zwingen müssen, Freundschaften für ihn schließen. Seit sie sich nicht mehr um ihn kümmere, verwahrlose er zusehends. Sein Zimmer säh wie ein Saustall aus, im Haushalt täte er gar nichts, er säße nur noch vor dem Fernsehapparat. Selbst in die Schule gehe er nur noch sporadisch. So ginge es nicht weiter. Er solle jetzt endgültig von der Schule abgehen, Zivildienst machen, sich eine eigene Wohnung suchen. Das klingt sehr entschieden. Dann aber bricht sie ein. Tränen steigen ihr in die Augen. „Ich kann ihn doch nicht so verkommen lassen. Was habe ich nur falsch gemacht. Ich bin wütend", sagt sie, „wütend und traurig. Und ich habe Schuldgefühle.“

Nach dieser Sitzung bin ich aufgewühlt und verwirrt. Der Wiedereinstieg in die 11. Klasse einer neuen Schule, die sich Leon selber gesucht hatte, fing so hoffnungsvoll an. Es gab nur Erfolgsmeldungen von der Schulfront: Klasse nett, Lehrer nett. Eins im Referat. Ich war froh, dass es endlich aufwärts ging, die Therapie ‚griff’. Der Neuanfang schien Leon zu beflügeln, er sah darin eine Chance, aus alten Mustern auszubrechen, dem Kreislauf von hochfliegenden Plänen und selbstzweiflerischen Grübeleien zu unterbrechen. Er könnte sich nun neu darstellen, seine in der Therapie erworbenen Fähigkeiten zeigen, sagte er zu mir. Es gäbe nicht mehr die Berge unerledigter Dinge, die ihn so quälten. Wir arbeiten in dieser Zeit an seiner Familiengeschichte, an generationsübergreifenden Themen, nachdem wir lange auf seine Lern- und Leistungsstörung und ihre fatale Verknüpfung mit der Familiendynamik fokussiert hatten.

Diese positive Entwicklung erscheint nach der Sitzung mit der Mutter wie zerstört. Ein Kartenhaus, das in sich zusammenbricht, ein Trümmerfeld. Ich fühle mich deprimiert und hoffnungslos, vor allem aber inkompetent und gescheitert. Immer wieder lasse ich in inneren Dialogen die Therapiesitzungen mit Leon Revue passieren, zähle mir immer wieder auf, was ich alles mit ihm bearbeitet habe, verliere mich in Rechtfertigungen und Verteidigungsreden. Ich merke, wie ich zunehmend wütend auf diese Familie werde, die mich so wenig erfolgreich werden lässt, wie ohnmächtig und hilflos ich mich fühle angesichts von Strukturen, die anscheinend resistent gegen jede Veränderung sind, und merke auch, wie die Mutter mir in dieser Sitzung unterschwellig, aber höchst erfolgreich den schwarzen Peter für die Symptomresistenz zuschieben wollte und merke in mir den Impuls, ihn an sie zurückzureichen.

Nachdem mir die zum Teil heftigen Gefühle immer mehr bewusst werden, versuche ich in einem nächsten Schritt aus einer inneren Distanz heraus die dahinterliegende Dynamik, in die die Familie mich mit einbezogen hat, zu verstehen, d.h. ich nutze die in mir ausgelösten Gefühle als Zugangsweg, um die Funktion des Symptoms innerhalb der Familie zu verstehen, zu verstehen, warum dieses Symptom nicht aufgegeben werden kann, warum das, was beklagt wird, lebensrettend ist.

Nach der Sicht und dem Erleben der Mutter bin ich neugierig auf die Beschreibung, die Leon von den Abläufen gibt. Was sagt er zu dem dargestellten Einbruch, ist er wirklich so dramatisch oder hat die Mutter schlichtweg übertrieben. Leon zeigt sich bedrückt und hoffnungslos. Auf dem Halbjahreszeugnis hagelt es 5en. „Ich bin halt bequem“, sagt er. „Ich räume mein Zimmer nicht auf, obwohl mich die Unordnung stört. Ich putze sogar manchmal die Zähne nicht, obwohl ich das gar nicht mag - ungeputzte Zähne. Ich weiche unangenehmen Situationen aus.“ „Können Sie mir ein Beispiel dazu nennen?", frage ich. Er: „Ich liege morgens im Bett, ich habe meine Englischhausaufgabe nicht gemacht. Ich habe Angst, dass ich drankomme, mich blamiere. Dann geh ich einfach nicht zur Schule.“ Ich: „Wie lange hätte denn die Erledigung der Aufgabe gedauert?“ Er: „Eine Stunde.“ Ich: „Und hätten Sie die Aufgabe bewältigen können?“  Er: „Nicht auf Anhieb. Ich hätte mich schon durcharbeiten müssen, nachgucken, nachschlagen. Habe Lücken im Englischen. Ich sitze davor und weiß dann nicht, wie anfangen. Das ist ein unangenehmes Gefühl - allein im Zimmer. Ich mache dann alles Mögliche, laufe auf und ab, bin rastlos. Dann fangen die Gedanken an, in die ich mich verliere. Wie ich sein möchte. Wie ich brillieren möchte. Wie ich vor der Klasse dastehen möchte. Toller Typ. Ich müsste erst mal zunehmen, denke ich dann. Mehr essen, Bodybuilding machen, aufhören zu rauchen. Ich bräuchte neue Klamotten. Manchmal denke ich dann an verrückte Sachen. Sie lassen mich dann nicht los. Wenn ich rauche, dann unterstütze ich die Tabakkonzerne, dann unterstütze ich die Ausbeutung in der dritten Welt. Ich will das nicht denken. Ich will mich damit nicht beschäftigen. Frau Konrad, meinen Sie auch, dass man für den Mord in der dritten Welt verantwortlich ist, wenn man sein Taschengeld nicht spendet?“ Ups. Es fängt mit der harmlosen Hausaufgabe an und endet meist mit Fragen um Schuld und Sühne, in die er mich zu verwickeln sucht.

„Im Moment“, sagt er, „ist mir alles egal. Alles. Mir geht es so schlecht und ich denke, bald bricht hier alles zusammen, dann geht es den anderen auch schlecht, so schlecht wie es mir heute schon geht.“ Dabei grinst er zufrieden.

Das Thema ‚Gammeln’ hat uns schon oft beschäftigt. Penner sein, wie die Penner vor Aldi. Von Vater Staat leben. Bier saufen. Sich um nichts kümmern, keine Ansprüche mehr haben. Ansprüche, die einen niederdrücken, die man sowieso nicht erfüllen kann. Versorgt werden, nichts tun müssen, nichts leisten. Das ist ein inneres Bild. Das andere: erfolgreicher Geschäftsmann sein. In einer Werbeagentur arbeiten. Dann müsste er aber auch für Zigaretten Werbung machen, sagt er und beobachtet mich dabei scharf, ob ich wohl dagegen wäre.

„Es gibt eine Seite in mir, die mir alles verbietet, die ich dauernd beschwichtigen muss“, sagt er. „Wenn ich dann vor den Aufgaben sitze, denke ich an das, was ich alles verpasse, ich denke an das Leben, das an mir vorbeizieht – ungelebt. Ich kann mich nicht zum Leben aufraffen und nicht zum Arbeiten. Ich hätte so gern eine Freundin“. –

Aber auch hier sind es eher die unerreichbaren jungen Frauen, die ihn interessieren. Die netten Mädels aus der Klasse, die sich um ihn bemühen, interessieren ihn nicht.

Leon hat eine kreative Seite und er hat Humor. Er zeichnet gern. Zu einer Sitzung bringt er mir seine Kinderbilder mit, die nur so vor Gewalt strotzen. Lauter wild um sich schießende Männer. Das macht ihm Spaß. Er lacht. Sein Elternhaus ist pazifistisch, mit einer Spur von Gewalt, was die Durchsetzung der pazifistischen Ideologie anbelangt. Spielzeugpistolen waren verpönt. Misstrauisch beobachtet er mich. Ob ich auch so eine bin? Eine, die Frieden predigt und Gewalt anwendet, indem sie autonomes Handeln unterbindet, Handeln, das ihren eigenen Wertmaßstäben zuwiderläuft. „Ich sympathisiere mit den jungen Liberalen“, versucht er mich zu provozieren, weil er mich für fortschrittlich hält.

 

Leon musste als Kind abgeben, er musste den kleinen Bruder lieben, der lange als verhaltensauffällig galt, der die ganze Aufmerksamkeit der Mutter beanspruchte, der hippelig und frech war, mit wenig Impulskontrolle. Er hat die Mutter wach gehalten, immer auf dem Sprung mit seinen risikoreichen Aktionen, einmal hat er fast das Haus abgefackelt.

Leon musste der Vernünftige sein, der Große, der Gesprächspartner der Mutter, ihr Vertrauter. Die Mutter hat sich in ihm gesehen. Ihm hat sie sich nah gefühlt, näher als dem Ehemann. Bei ihm hat sie ihre depressive Seite gesehen, wollte ihm das Leben erleichtern, Schwieriges, Enttäuschendes aus dem Weg räumen. Er sollte es besser haben als sie, einfacher. Nicht unter ihren Hemmungen leiden. Aber seine Antriebsarmut hat auch innere Bilder ausgelöst, die sie in Angst und Schrecken versetzt haben. Was ist, wenn er nie selbständig sein wird, immer von mir abhängig. Was wenn er psychisch krank wird.

Heute sagt sie: „Ich erlebe ihn wie einen Riesensäugling, der nur auf meine Kosten lebt. Es gibt so eine Angst, ich werde ihn nie los. Er wird nie lebenstüchtig sein. Wie ein Cousin, der heute noch mit seiner Mutter zusammenlebt oder  ein Neffe, der sich umgebracht hat“.

Diese inneren Bilder treiben ihr Handeln an, versetzen sie in Alarmbereitschaft, bilden den Hintergrund, auf dem sie das Verhalten des Sohnes interpretiert.selffullfilling prophecy. Das, was sie befürchtet und was sie mit ihrem Handeln verhindern möchte, trifft ein, wie die Weissagungen der Orakel in den griechischen Tragödien.  

Das ist die eine Seite. Die andere: sie hat ihn auch an sich gebunden, in dem sie für ihn handelte, von sich abhängig gehalten, länger als es nötig war. Sie hat oft nur über die Kinder Dinge leben und für sich in Anspruch nehmen können, die Kinder dadurch existentiell gebraucht. Sie hat, indem sie für Leon handelte, die eigene Spannung reguliert, musste dadurch nicht aushalten, welche Lösungen, welche Wege Leon selber findet. Er konnte dadurch geringe Kompetenzen ausbilden. Ein Vogel mit gestutzten Flügeln. Das ist mein Bild. Das fehlende Zutrauen der Mutter in ihn und in seine Fähigkeiten ist Teil seines Selbstbildes geworden. Auch er traut sich nichts zu. Der sorgenvolle Blick der Mutter auf ihn ist Teil des Blickes geworden, den er auf sich hat. Er hat ihn verinnerlicht. Im Penner kann man das Bild der Mutter wieder erkennen: Das des Riesenbabys, das immer von ihr abhängig bleibt, von ihr durchgefüttert werden muss, verwahrlost, wenn sie es nicht unterstützt. Und der erfolgreiche Geschäftsmann? Einer, der nur an sich denkt, für seine Karriere arbeitet, keine Rücksicht nimmt, sozusagen über Leichen geht. Hier scheinen seine vitalen Impulse nach Expansion durch, die früh unterdrückt wurden und die er sich jetzt selbst verbietet. Sie sind für ihn gleichzeitig verlockend, wie auch verwerflich. „Als Handelnder wird man schuldig“, sagt er und versucht damit ein früh erlebtes Verbot zu bebildern. Als Handelnder entferne ich mich von der Mutter, die mich doch braucht.

Zu Beginn der Therapie hatte er seinen Vater und seine Mutter für sein verpfuschtes Leben, für seine Hemmungen, sein Anderssein verantwortlich gemacht. Er wäre gegenüber Gleichaltrigen immer benachteiligt gewesen, weil die Eltern so eine konsumfeindliche Ideologie vertraten. Vor allem den Vater, den er als starr und cholerisch beschrieb, hatte er gehasst. Er musste ihn eine zeitlang meiden, hatte alles abgelehnt, was der Vater tat. Er hatte sogar das Zeichnen aufgegeben, weil es eine Gemeinsamkeit mit dem Vater ist. Er wollte nicht, dass der Vater zu Sitzungen zu mir kam. Diesen Vater konnte er nicht benutzen, um sich von der Mutter zu entfernen. Mutter und Sohn waren gegen ihn verbündet, der Sohn hatte sich an seine Stelle gesetzt und der Vater hatte es zugelassen. Er war für den Jungen kein Modell für einen eigenen Weg.

Als Gebundener konnte Leon die widersprüchlichen Erwartungen der Mutter an ihn nicht erfüllen. Sie wollte, dass er draußen im Leben erfolgreich sein sollte, um sich selber erfolgreich fühlen zu können. Aber sie konnte ihn auch nicht erfolgreich werden lassen, weil er sich dadurch entfernte. Die Botschaft ‚Bleib bei mir und werde im Leben erfolgreich’ ist eine Art Zwickmühle. Während man den einen Teil erfüllt, muss man dem anderen Teil der Botschaft zuwiderhandeln.  Wie kann Leon diesen unlösbaren Konflikt bewältigen?

Als ich an diesem Text schrieb, lief Good bye, Lenin in den Berliner Kinos an. Die Geschichte eines jungen Mannes, der, um seiner Mutter den Schock der gesellschaftlichen Veränderung zu ersparen, die Zeit in ihrer kleinen Wohnung anhält, eine Art Schonraum für sie, aber auch für sich herstellt.

Mit der Symptomatik, die Jugendliche in der Adoleszenz entwickeln, schaffen sie oft auch so eine Art Schonraum für sich und ihre Familie, wie der junge Mann in Good bye, Lenin. Mit der Symptomatik wollen sie meist intuitiv ein Elternteil vor der befürchteten Dekompensation schützen, die durch das Aus-dem-Haus-Gehen des Kindes, sein Erwachsenwerden ausgelöst werden könnte. Sie gönnen sich damit selber aber auch eine Art Auszeit, weil sie sich den Anforderungen da draußen nicht gewachsen fühlen, Angst vor der Verantwortung haben, die sie als ein „Alles oder Nichts“ erleben, nicht als ein schrittweises Hineinwachsen. 

Für Leon könnte das bedeuten, dass er Ehrenrunde um Ehrenrunde in der Schule dreht, um sich einem Leben außerhalb der Schule nicht stellen zu müssen. Vielleicht hält er sich ja ohne die Mutter für nicht lebensfähig. Und spürt auf einer noch unbewussteren Ebene, dass auch die Mutter – trotz ihrer Beteuerungen - ohne ihn und die Verantwortung für ihn, ohne ihr Gebrauchtwerden das Leben für nicht lebenswert halten könnte. Mit seinem Scheitern in der Schule zeigt er ihr, dass er auf sie angewiesen bleibt, dass er sie braucht, dass er ohne sie nicht leben kann. Er versichert ihr damit die Liebe des kleinen Jungen. Er hält die Zeit für sie an.

Trotzig sagt er zu ihr: „Ich kann alleine!“ und appelliert gleichzeitig durch sein Verhalten an sie: „Hilf mir. Siehst Du denn nicht, dass ich es alleine nicht schaffe!“ Aber auch: „Sieh her, wie Du mich ausgestattet hast, wie du verhindert hast, dass ich selbständig werde.“  Er bindet sie über die Schuldgefühle, die er ihr macht und verschafft sich damit Schonräume.

Gleichzeitig ist aber die Leistungsverweigerung seine Möglichkeit, sich autonom zu fühlen. Er erlebt das Arbeiten für die Schule als etwas, was die Mutter von ihm möchte und verweigert sich gegenüber ihren Anforderungen. Der interpersonelle Konflikt mit seiner Mutter ist aber auch zu einem intrapsychischen Konflikt geworden. Ein Teil in ihm will aufbrechen, einer nicht, hindert ihn, drückt ihn nieder. Den Teil, der aufbrechen will, zeigt er nun vornehmlich mir, möchte, dass ich diesen Teil stärke. Gleichzeitig ist er aber auch in der paradoxen Situation, dass er mit jedem Gesundungsschritt, die Therapie, die Beziehung zur Therapeutin, aufgeben müsste. Also auch bei mir bedeutet Aufbruch Verlust des äußeren Objektes. Die Angst vor diesem äußeren Verlust bedeutet aber auch, dass er die hilfreichen Anteile des äußeren Objektes noch nicht ausreichend verinnerlichen konnte, sie nicht Teil seiner Ich-Funktionen, seiner Selbstregulationen, seiner inneren Dialoge wurden. Indem er sich dieser Verinnerlichung verweigert, bleibt er auch von mir und meinen Fähigkeiten abhängig. Er wiederholt damit die Beziehung zur Mutter. Durch die Reinszenierung in der Therapie können diese Beziehungsmuster gemeinsam erlebt und verstanden werden. Durch die reflektierende Reaktion des Therapeuten ist es dem Jugendlichen dann schrittweise möglich, sie zu verändern.

Soweit die erste Fallvignette.

Eine zweite Vignette als eine Art Kontrastprogramm dazu:

Ein 14jähriges Mädchen, die ich Ester nenne. Die 5. von 5 Kindern. Ein Nachzügler. Die Geschwister, meist Brüder, fast erwachsen. Die Eltern trennen sich nach langem Hin und Her. Jeder Elternteil hat einen neuen Partner. Jeder möchte ein neues Leben beginnen. Das Mädchen – als Kind extrem unauffällig – stört irgendwie.

Sie fühlt sich allein, im Stich gelassen, zwischen Mutter und Vater hin und hergeschoben. Es gibt keinen Platz mehr für sie. Sie will sich aber auch nicht mehr anpassen. Mit dem neuen Partner der Mutter kann sie nicht umgehen. Sie provoziert ihn, streitet sich, fordert die Mutter auf, Stellung zu beziehen. Die hält zum Partner. Als das Mädchen immer mehr zum Vater ausweicht, stellt sie die Mutter vor die Entscheidung: „Dann zieh ganz zu ihm!“

Im Gegensatz zur Mutter, die starr erscheint und rigide, ist der Vater ein weicher Mann. Eine Art Teddybär. Er lässt viel zu, verbietet wenig, entzieht sich aber auch. Er setzt ihr kaum Grenzen, erlebt Ester als dominant. Teilweise kann er sich gut in sie einfühlen, dann wiederum überfrachtet er sie mit seinen Phantasien. Er sieht in ihr das Verrückte der Familie der Mutter verkörpert. Er erträgt es nicht, wenn sie nicht mit ihm redet. Das mache ihn hilflos, sagt er. Auch der Vater hat eine neue Partnerin. Eine nette, warmherzige Frau, wie er mir versichert, mit der sich die Patientin so gut verstehen könnte. Die will sich aber nicht mit ihr verstehen.  Der Vater möchte zu seiner Freundin ins Berliner Umland ziehen. Ester könnte ja mitziehen, meint er. Auch das will sie nicht. Sie will nicht aus Berlin weg, will nicht von den Geschwistern weg. Sie misstraut dem Vater. Der bietet viel an, hält wenig. Er unterwirft sich den jeweiligen Partnerinnen, die ihm das Nest, das auch er noch sucht, schaffen sollen.

Ester haut ab. Sie möchte auf der Straße leben, sucht Gleichgesinnte, Gleichgeschädigte, treibt sich am Bahnhof Zoo rum. „Ich bin ein Suchti“, schreibt sie einmal an ihre Geschwister, „weil, als ich klein war, die Eltern meine Illusion, ich hätte eine Familie, zerstört haben“.

Die Eltern haben sie aus dem Nest geworfen. Sie soll selbstständig sein und gleichzeitig abhängig, jeden Dreh der Eltern widerspruchslos mitmachen. Ohne eigene Wünsche.

Ester geht nicht mehr zur Schule. Sie veröffentlicht ihr Problem, führt die Eltern vor. Das Jugendamt wird eingeschaltet. Ester verweigert sich radikal. Aber sie richtet in ihrer Not die Wut auch gegen sich selbst. Sie ritzt sich, schreibt einen Abschiedsbrief und läuft weg. Die Schwester schreibt ihr eine SMS und kann sie damit von ihrem Vorhaben, sich umzubringen, abhalten. Der Vater fühlt sich überfordert mit ihr, hat Angst um sie, fühlt sich ihr nicht gewachsen. Er möchte sie am liebsten in die Psychiatrie einweisen lassen. Die Mutter macht den Vater für die Entwicklung verantwortlich, bei ihr wär das nicht passiert, will sie aber auch nicht zurückhaben.

Die Schwester findet zunächst eine Übergangs - WG, in der sich Ester wohl fühlt. Die Betreuer beschreiben sie als engagiert und hilfsbereit. Sie absolviert ein 8wöchiges Praktikum in einer Kindertagesstätte und wird als kompetent und zuverlässig gelobt – ungewöhnlich reif für eine 14Jährige. Ester ist ein kluges Mädchen mit einer wachen Auffassungsgabe. Hübsch, ein wenig übergewichtig, sehr präsent. „Frau Konrad, warum kann ich nicht 20 sein, warum muss ich doofe 14 sein. Ich will alleine wohnen, ich will nicht mehr von diesen doofen Eltern abhängig sein! Denen bin ich sowieso egal.“

In einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Ohnmachtgefühlen handelt sie oft impulsiv und gewalttätig, ohne Rücksicht auf die Folgen. Durchbruchartig. Sie erträgt ihre Abhängigkeit nicht. Sie muss aktiv bleiben. So sehr sie unter der Labilität der Beziehungen leidet, so sehr setzt sie mich selber diesem Auf und Ab aus. Manchmal hätte sie am liebsten jeden Tag einen Termin, möchte, dass ich sie mit in Urlaub nehme, kommt pünktlich, eher zu früh, erscheint reflektiert, differenziert und klug, und ich kann mit ihr gut die heftige Dynamik bearbeiten, die es zu anderen Zeiten gibt. Dann plötzlich kommt sie nicht mehr, für mich ohne erkennbaren Grund, der in den Therapiesitzungen liegen könnte. Meist geht es darum, dass sie denkt, ich bin mit etwas, das sie macht, nicht einverstanden, habe eine andere Meinung dazu: z.B. als sie nicht zur Schule ging. Dann kommt sie solange nicht zur Therapie, bis klar ist, dass sie in diese Schule nicht mehr gehen kann. Sie hat große Angst, dominiert zu werden, auch von mir. Aber auch Angst, etwas zu tun, mit dem ich nicht einverstanden sein könnte und es mir gegenüber zu vertreten. Sie muss also meine Erwartungen erfüllen und wenn sie es nicht tut, darf sie mir nicht oder kann mir nicht unter die Augen treten. Sie hat Angst, ich könnte sie kritisieren, ihr mein Missfallen bekunden. Erst im Nachhinein kann sie ihre Aktionen begründen, auch über ihre Angst sprechen, meine Missbilligung aushalten zu müssen. Das fängt sich allmählich an zu verändern. Im Projekt, im Schutz der Gleichaltrigen, kann sie mittlerweile klarer Dinge benennen, die sie nicht mag.

Zu Beginn der Therapie konnte sie mich nicht um Hilfe bitten. Das hat sich verändert. Sie konnte nicht sagen, was sie nicht will, auch das hat sich geändert.

Esters Idol ist Eminem. Mit Textstellen aus einem Song von ihm hat sie mit ihrer Mutter abgerechnet. „Glaub ja nicht“, heißt es da, „dass ich den ganzen Mist mache, damit du mich siehst. Ich habe die Nase so voll von Eltern, die nur rummeckern und sich dann auf und davon machen.“

Mittlerweile ist sie in einem Projekt für schuldistanzierte Kinder. Sie ist die beste der Gruppe wird gelobt für ihr soziales Engagement. „Hier ist man nicht allein“, sagt sie zu mir. „Ich feure die anderen an, sagt die Betreuerin über mich. Seitdem ich im Projekt bin, lernen sie. Es ist schöner, mit anderen gemeinsam zu lernen, wichtiger als persönlich vorwärts zu kommen.“

Aber die Gruppe ist labil. Einige werden Ostern weggehen und Ester reagiert jetzt schon mit Bauchschmerzen. „Es gibt das Nest, das sie sucht, nicht“. Der Vater sagt das fast triumphierend. Er will sie mit nach Brandenburg nehmen. „Nur damit er ein gutes Gewissen hat“, sagt sie. „Es geht ihm gar nicht um mich. Es geht ihm nur um sich.“

 

Zwei Lebenswege. Zwei sich unterschiedlich darstellende Konflikte um Abhängigkeit, Angewiesensein auf die Fürsorge der Eltern, und Autonomie, zwei unterschiedliche Lösungen. Gibt es Gemeinsames?

Beide sind angepasste Kinder gewesen, Kinder, die nicht aufgemuckt haben. Ester sagt: „Man konnte mich in die Ecke stellen und da blieb ich stehen“. Beide sind Kinder gewesen, die aus unterschiedlichen Gründen in ihrer Selbstbehauptung, in ihrem explorativen, die Welt erkundenden Verhalten eingeschränkt wurden. Sie wurden nicht neugierig gemacht auf die Welt mit all ihren Abenteuern, die es zu bewältigen galt. Die Welt erschien eher bedrohlich, unüberschaubar, unbewältigbar. Der eigene Raum wurde früh bei beiden eingeschränkt - durch die inneren Bilder der Eltern, durch die Zuschreibungen, die Delegationen.

Beide haben mit diesen verinnerlichten Bildern der Eltern zu kämpfen, wollen diese Bilder abschütteln, wollen sie selbst sein und sind verwirrt darüber, was das sein könnte: Der Weg, der zu ihnen passt. Und: ob sie fähig sind, diesen Weg zu gehen.

Beide wählen eine Form von Selbstdestruktivität, um sich abgrenzen zu können, etwas Eigenes auf die Beine stellen zu können, um sich nicht unter fremde Ziele, fremde Wünsche zu unterwerfen.

In ihrem pubertären Trotz, in ihrer Verweigerung, drücken sie etwas aus, was sie mit Worten nicht sagen können. Sie drücken ihre Wut aus. Sie drücken einen Mangel aus. Sie verweigern sich den Zielen der Eltern, um die Eltern an ihren empfindlichen Stellen zu treffen, weil sie etwas nicht bekommen haben, was sie brauchen. Sie fühlen sich in der Verweigerung mächtig.

Therapie bedeutet einen inneren Raum zu eröffnen, in dem die Patienten sich mit ihren unterschiedlichen Aspekten zeigen können, unterschiedliche, oft unerträgliche Gefühle gemeinsam mit dem Therapeuten erleben und aushalten können. Therapie bedeutet einen Raum zu schaffen, in dem die innere Zerrissenheit agiert und ausgehalten werden kann, andere Lösungen, andere Kompromisse gefunden werden können.

Symptome sind ein Kompromiss, den der Patient findet, um Unvereinbares unter einen Hut zu bekommen: Den Wunsch nach Selbstständigkeit und die Angst vor der Welt da draußen. Die Angst vor einschränkender Abhängigkeit und der Wunsch nach Aufgehobenheit. Oft drücken die Symptome einen Mangel aus, sie zeigen auf das, was in der Entwicklung gefehlt hat, was jetzt in der Pubertät schmerzlich erlebt wird und nachgeholt werden muss.  Ein wichtiger Aspekt ist dabei das Erleben der eigenen Wirkmächtigkeit, das Gefühl, durch eigenes Handeln eigene Ziele verwirklichen zu können. Wurde diese Handlungsmöglichkeit früh unterdrückt, fehlt ein wichtiges Motiv, um  neugierig auf das Leben zuzugehen, mit Freude und Zuversicht Schwierigkeiten zu bewältigen. Im therapeutischen Prozess kann der Patient seine Handlungsmöglichkeit erleben, er kann sie lustvoll besetzen lernen, das Erleben seiner Handlungsmöglichkeiten in das Selbstbild integrieren. Ein Therapieziel könnte sein, dass der Patient zu sich sagen kann: „Ich bin einer, der das Leben bewältigen, Schwierigkeiten überwinden kann.“ Therapie bedeutet auch zu erleben,  dass das Angewiesensein auf einen Anderen, den Therapeuten, nicht zu Machtmissbrauch und Demütigung führen muss.

Leon sagte in einer der letzten Sitzungen zu mir: „Ich hatte Angst, Ihnen von meinen Schwierigkeiten zu erzählen. Ich hatte Angst, dass sie mich für dumm halten könnten, Angst, dass sie mich fallen lassen, dass sie mich aufgeben könnten.“

 

Abstract

Anhand von zwei Fallbeispielen möchte ich die unterschiedliche Ausprägung von Autonomiekonflikten in der Adoleszenz aufzeigen. Herausgearbeitet werden soll dabei vor allem, wie sich in den Autonomiekonflikten die Lebensgeschichte der Jugendlichen, die Erwartungen, die Hoffnungen und Befürchtungen ihrer Bezugspersonen spiegeln. Ansatzweise zeige ich auch auf, wie diese Konflikte sich im therapeutischen Verlauf darstellen und wie für diese Konflikte durch die therapeutische Arbeit neue Lösungen gefunden werden können.

 

Literaturhinweis:

Bürgin, D. (1999): Adoleszenz und Trauma. In: Streeck-Fischer, A.(Hrsg.): Adoleszenz und Trauma, 128-161. Göttingen

Dolto, F. (1991): Von den Schwierigkeiten erwachsen zu werden. Stuttgart

Resch, F.(1998): Stigma; Minderwertigkeitsgefühl und soziale Ängste bei Kindern und Jugendlichen. In: Katschnig, H. (Hrsg.): Wenn Schüchternheit zur Krankheit wird, 81-93. Wien

Strauch, B. (2003): Warum sie so seltsam sind. Gehirnentwicklung bei Teenagern. Berlin

 

Regina Konrad Landauer Str. 12  D 14197 Berlin

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